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Politik

Zeitloses Europa

26. Oktober 2019

Die Europäische Union hat am Sonntag wieder die Uhren umgestellt. Der Zeit-Wechsel wird uns noch lange erhalten bleiben, weil die EU sich total verheddert. Oh Zeiten, oh Sitten, meint Korrespondent Bernd Riegert.

Symbolbild fünf vor zwölf fuer Europa
Bild: picture-alliance/dpa/U. Baumgarten

Die Zeit heilt alle Wunden? Dieser Spruch trifft auf die EU leider nicht zu. Im Gegenteil: Je länger Probleme auf der Zeitachse weitergeschoben werden, je komplizierter werden sie. Das betrifft die großen Krisen wie den Brexit und Kleinigkeiten wie die Abschaffung der Zeitumstellung.

Kleinigkeiten? Weit gefehlt. Die vor einem Jahr von der EU-Kommission vorgeschlagene Abschaffung des halbjährlichen Zeitenwechsels braucht Zeit und nochmals Zeit. Die Mitgliedsstaaten der EU können sich trotz vieler vertrödelter Beratungsstunden nicht einigen, wer wann welche Zeit abschafft oder beibehält.

Und überhaupt! Einige Staaten wollen Machbarkeitsstudien anfertigen und Koordinierungsausschüsse einsetzen. Die EU-Kommission lehnt das ab. Sie hatte es eilig, weil das Thema noch von Jean-Claude Juncker abgeräumt werden sollte, bevor seine (Amts-)Zeit als Präsident der Kommission abläuft. Daraus wird nichts. Die Zeitreise zurück vor das Jahr 1996, bevor die Sommerzeit in allen EU-Staaten vereinheitlicht wurde, könnte sich zum zeitlosen Klassiker der europäischen Streitereien entwickeln. In Brüssel laufen schon Wetten, was zuerst gezeitigt wird: der Brexit oder die Abschaffung der Zeit, also der Sommerzeit. Oder doch lieber der Winterzeit?

In welcher Zone lebt es sich besser?

Einige Staaten möchte die Sommerzeit behalten, weil es morgens später hell wird. Einige finden die Winterzeit besser, weil es morgens früher hell wird. Und umgekehrt. Es droht ein fröhlich bunter Flickenteppich aus Umsteigern und Aussteigern aus dem zentralen Zeitmanagement innerhalb der drei Zeitzonen der EU.

Apropos Zeitzone. Spanien überlegt, die mitteleuropäische Zeitzone zu verlassen und die britische Zeit, also Greenwich Mean Time, einzuführen. Das wäre geografisch auch viel sinnvoller. Auch Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Frankreich wären rein vom Sonnenstand her gesehen in der GMT viel besser aufgehoben.

Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Das Europäische Parlament hatte ursprünglich das Jahr 2021 als Zeitpunkt für die große Sommerzeit-Winterzeit-Reform angepeilt. Doch die Mitgliedsstaaten winken ab: zu wenig Zeit, um die komplexen Vorbereitungen zu treffen. Aber: Vorbereitungen worauf eigentlich? Das EU-Beitrittsland Türkei hat vorgemacht, wie das ohne viel Zeitaufwand geht. 2016 beschloss Präsident Erdogan die dauerhafte Einführung der Sommerzeit, was sein Land de facto in eine Zeitzone katapultierte, die jetzt zwei Stunden von Berlin und drei Stunden von London entfernt ist.

Direkte Demokratie ist Mist

Wie konnte es nur soweit kommen? Ein Blick in die Zeitgeschichte hilft. Die Sommerzeit ist ein Überbleibsel des Ersten Weltkrieges, als Militärs mehr Licht für ihre sinnlosen Schlachten haben wollten. Im Zweiten Weltkrieg führten die Deutschen sie eben deshalb noch einmal ein. Zum dritten Mal wurde dann mit der großen Ölkrise 1973 an der Uhr gedreht, um Energie zu sparen. 1996 schließlich wurde das Ganze - damals dachte man für alle Zeiten - ein EU-Gesetz.

2018 führte eine Online-Umfrage in der EU zum Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der 4,6 Millionen Teilnehmer ein Ende der Zeitumstellung wünscht, weil es angeblich besser für die Gesundheit sei, weil es abends früher heller oder dunkel sein soll. Oder war das morgens? Diese Befragung, die man für den Willen des europäischen Volkes hält, obwohl sie nicht repräsentativ war und ist, soll nun auf jeden Fall Grundlage für die Entscheidungen sein. Der Zeitgeist zeigt sich: direkte Demokratie, Bürgerbeteiligung.

Was schon beim Brexit-Referendum schief ging, könnte sich bei der Zeit-Abstimmung wiederholen. Mancher vermeintliche Volkswille lässt sich nicht oder nur mit sehr viel Zeit umsetzen. In beiden Fällen drängt die Zeit nicht von der Sache her. Der Zeitdruck wird künstlich von politischen Kräften erzeugt. Und auch bei der Sommer/Winterzeit sollte am Ende vielleicht ein zweites Referendum stehen, um das ganze Problem noch einmal im Lichte seiner möglichen Folgen zu bewerten.

Das einzig Wahre: Die Ortszeit nach der SonneBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Freiheit und Sonne

Kommt Zeit, kommt Rat! Meiner wäre, dass wir einfach wieder die Sonnenzeit einführen. An jedem Ort gilt ja geografisch eine andere Zeit, die Ortszeit, die am Sonnenstand abgelesen werden kann. Wenn die Sonne am höchsten steht, ist es 12 Uhr. Fertig. Die künstlich eingeführten weltumspannenden Zeitzonen sind im Grunde eine anachronistische Bevormundung.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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