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Zweifel am Musterschüler

7. September 2015

Deutschland sieht sich selbst als leuchtendes Beispiel für den richtigen Umgang mit Flüchtlingen. Doch die Partner in der Europäischen Union sind viel kritischer, und das mit Recht, meint Christoph Hasselbach.

Bild: Reuters/L. Barth

Es ist ergreifend, wie die Deutschen erst am Wochenende wieder Tausende von Flüchtlingen jubelnd empfangen haben, die über Ungarn und Österreich gekommen sind. Überall im Land erfahren Flüchtlinge eine Hilfe und Wärme, die sie auf ihrem langen Weg hierher vermisst haben. Sonst überall wurden sie allenfalls als Durchreisende geduldet und dann schnell weitergeschickt. Die Bundeskanzlerin sagt: "Wir schaffen das." Viele Deutsche sind stolz, und zwar zurecht. Es gibt fast so etwas wie einen neuen deutschen Patriotismus. Er gründet sich darauf, wie dieses Land fast im Alleingang und gegen große Widerstände zum Retter für viele Hunderttausende wird.

Soweit die Innensicht. Die Außensicht ist oft ganz anders. Denn viele Menschen im Rest Europas sehen das Verhalten der Deutschen nicht mit Bewunderung, sondern mit Unverständnis. Mehr noch, es gab in den vergangenen Wochen häufig Kommentare aus dem Ausland, auch auf den Seiten von dw.com, mit dem Tenor: "Die Deutschen haben jedes Maß verloren, sie wechseln vom einen Extrem ins andere." Eine Willkommenskultur, die bedenken- und grenzenlos jeden aufnimmt, kommt vielen in Europa unheimlich vor.

Deutschland ist einzigartig

Es geht hier ausdrücklich nicht um die Frage, ob Europa grundsätzlich Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen sollte oder nicht. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Sondern es geht um den Kontrollverlust, um den fast völligen Verzicht einer Steuerung und Begrenzung des wachsenden Zustroms, den die Deutschen hinnehmen, wenn nicht sogar bewusst zulassen. Darin unterscheidet sich Deutschland von allen anderen. Von London über Kopenhagen, Warschau, Riga, Prag bis Budapest sagen die Regierungschefs: "Wenn die Deutschen wirklich so verrückt sind, dann jedenfalls nicht mit uns!"

Nirgendwo auf der Welt kann man ohne Erlaubnis ins Land seiner Wahl gehen und sagen: "Ich will jetzt hier leben!" - nirgendwo außer in diesen Wochen in Deutschland. Und das geht auch andere Länder etwas an. Ungarn und Österreicher beschweren sich, Berlin sorge einerseits für diesen Sog, verlange aber andererseits von den Transitländern, sie sollten die Dublin-Regeln einhalten und sich um die Flüchtlinge kümmern. Und die Briten befürchten, ein Teil der Flüchtlinge in Deutschland werde später versuchen, sich auf der Insel niederzulassen. Bekommen sie eine EU-Staatsbürgerschaft, hätten sie durch den freien Personenverkehr auch ein Recht darauf. Durch den Umgang mit Flüchtlingen wird ein britischer EU-Austritt noch wahrscheinlicher. Und sage niemand, das wäre eine Kleinigkeit.

DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Es geht um langfristige Folgen

Von den vielkritisierten Briten sollten sich die Deutschen im übrigen etwas über Integration sagen lassen. Denn die Briten haben darin mehr Erfahrung. Ist es Zufall, dass die ganz große Mehrheit der Briten jede weitere Zuwanderung ablehnt? In der deutschen Diskussion geht es fast immer nur um die verwaltungstechnische Bewältigung des Flüchtlingsstroms. Kaum jemand scheint sich Gedanken um die langfristigen Folgen zu machen.

Doch das ist die eigentliche Herausforderung: Wird die Gesellschaft mit einer so fundamentalen Umwälzung fertig, die alle Bereiche des Lebens erfassen wird? Will sie das überhaupt? Wichtig ist: Man kann das Experiment nicht abbrechen, auch wenn es scheitert. Das heißt, es geht heute um Entscheidungen für Generationen. Und auch wer nicht steuert, so wie die Deutschen im Moment nicht steuern, trifft damit Entscheidungen. Es wird Zeit, die Kontrolle zurückzugewinnen.

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