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PolitikPolen

Es geht der EU um Machtverteilung, nicht Werte

Boris Kalnoky Kommentarbild App PROVISORISCH
Boris Kálnoky
23. Oktober 2021

In der Debatte um Polens Justizsystem ist wenig so, wie es scheint. Es geht in Wahrheit um die Machtverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten, schreibt Boris Kálnoky.

Hat Polen Recht mit dem Vorwurf, dass sich die EU Kompetenzen erschleicht, die vertraglich nicht festgehalten sind?Bild: Mateusz Slodkowski/AFP/Getty Images

Am 7. Oktober befand das polnische Verfassungsgericht, dass Teile des Europavertrages (Vertrag von Lissabon) gegen die polnische Verfassung verstoßen. Damit löste es eine heftige Debatte aus, in der aber wenig wirklich so ist, wie es scheint.

Vor allem dies: Aus Brüssel und den meisten Mitgliedsländern erklingt der Alarmruf, dass "noch nie" der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht in Frage gestellt worden sei. Das ist schlicht falsch.

Der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht ist vielmehr noch nie vereinbart worden. Ein Versuch wurde unternommen, scheiterte aber. Der Entwurf einer "Europäischen Verfassung" 2004 enthielt die Bestimmung, dass europäisches Recht Vorrang habe vor nationalen Verfassungen. Der Entwurf scheiterte aber an Volksbefragungen in Frankreich und den Niederlanden.

Im zweiten Anlauf wurde 2009 der inhaltlich sehr ähnliche Vertrag von Lissabon verabschiedet. Der wichtigste Punkt, in dem er von der gescheiterten "Europäischen Verfassung" abwich, war der Verzicht auf eine förmliche Festschreibung des Vorrangs europäischen Rechts vor den nationalen Verfassungen.

Ein virulentes Thema

Das dürfte ein Indiz dafür sein, wie politisch brisant dieses Thema immer schon war. Nie hat es darüber Einvernehmen gegeben. Insbesondere Großbritannien, aber auch das deutsche Verfassungsgericht haben Konfliktpotential darin gesehen. Im Mai 2020 befand das Bundesverfassungsgericht, dass Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank "kompetenzwidrig" seien. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EUGh), die Käufe seien EU-konform, nannte das Gericht in Karlsruhe "nicht nachvollziehbar." Es stellte damit den Vorrang des EUGh in dieser Sache in Frage.

Boris Kálnoky Bild: Privat

Dass Entscheidungen des EUGh Vorrang haben auch vor den Verfassungen der Mitgliedsstaaten, das haben die EU-Richter einfach selbst beschlossen. Die treibende Kraft war Robert Lecourt, ein konservativer französischer Politiker. Er schrieb viel darüber, dass europäisches Recht absoluten Vorrang genießen müsse. 1964 war er der Rapporteur am Vorgänger des Europäischen Gerichtshof in einem eigentlich unpolitischen Verfahren, die Causa Costa vs. ENEL. Er nutzte diesen Fall, in dem es um das private Anliegen eines italienischen Investors ging, um daraus den auch verfassungsrechtlichen Vorrang europäischen Rechts zu konstruieren.

Es gelang ihm, die Richter zu überzeugen. In Wirklichkeit aber nutze er ein peripheres Verfahren, um ein Prinzip durchzusetzen, das er politisch für wünschenswert hielt.

In der Folge gab es wenig formalen Widerstand dagegen. Das lag vor allem daran, weil diese Maxime nie verwendet wurde, um die politischen Systeme von Mitgliedsstaaten durch europäischen Richterentscheid umzukrempeln. Es ging meistens um relativ unpolitische Entscheidungen. In den letzten Jahren hat sich das geändert, und der Widerstand wächst entsprechend. Der EUGh ist zu einem Faktor politischer Macht geworden.

Es geht um Macht, nicht Werte

In der Debatte geht es auch um den Vorwurf Polens, die EU erschleiche sich Kompetenzen, die nirgends vertraglich fixiert seien. Die Etablierung des Vorrangs europäischen Rechts vor den Verfassungen der Mitgliedstaaten ist ein Paradebeispiel für diese schleichende Kompetenzerweiterung.

In Wahrheit geht es weder um geltendes Recht, noch um "europäische Werte." Es geht um einen Machtkampf. In einem Beitrag für Politico haben Stefan Auer und Nicole Scicluna dafür Anhaltspunkte geliefert.

Die EU sei eine "sich entwickelnde, experimentelle politische Struktur", schreiben sie, über deren Ausgestaltung die Mitgliedstaaten ständig verhandeln. Polen habe daran ebenso Anteil wie alle anderen, und der polnische Vorstoß exponiere letztlich eine wesentliche Schwäche der rechtlichen Konstruktion der EU.

Es geht hier um mehr als die Frage, ob das polnische Justizsystem politisiert ist. (Es liegt nicht zuletzt an den polnischen Wählern, ihre Regierung dafür zu bestrafen und sie abzuwählen, wenn sie das nicht wollen).

Es geht darum, ob die EU ein de facto Staat sein soll, oder ein Bündnis souveräner Nationalstaaten. Grundlage der Souveränität eines jeden Staates ist dessen Verfassung.

Boris Kálnoky ist ein deutscher Journalist und seit 2020 Leiter der Medienschule des Mathias Corvinus Collegiums (MCC) in Budapest, das der ungarischen Regierungspartei Fidesz nahesteht.

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