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Politik

Ungarn: Orbáns heimliche Umgestaltung

13. Mai 2020

Das ungarische Notstandsgesetz gestattet weiterhin ein unbefristetes Regieren per Dekret. Viktor Orbán nutzt das für weitreichende Einschränkungen von Bürgerrechten und intransparente Wirtschaftsmaßnahmen aus.

Premierminister Viktor Orbán
Premierminister Viktor Orbán im ungarischen Parlament (30.03.2020)Bild: picture-alliance/AP Photo/T. Kovacs

Nicht im Widerspruch zu europäischem Recht - so bewertete die EU-Kommission vor kurzem das ungarische Notstandsgesetz. Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Regierung nahmen das Urteil mit großer Genugtuung auf und halten es seither allen Kritikern entgegen. Dass Ungarns Parlament ausgeschaltet sei und Orbán mit diktatorischen Vollmachten regiere - all das seien "Fake-News" und Lügen "linksliberaler Brüsseler Politiker" und des "Soros-Netzwerks", erklären ungarische Regierungspolitiker derzeit fast täglich, mitunter in äußerst erregtem Ton.

Dennoch reißt die Kritik am ungarischen Notstandsgesetz nicht ab. Sogar die EU-Justizkommissarin Věra Jourová, die kürzlich das Unbedenklichkeitsattest ausgestellt hatte, äußert sich inzwischen nuancierter und besorgter. An diesem Donnerstag wird deshalb auch das Europaparlament über das Gesetz diskutieren.

Tatsächlich sind die Bedenken begründet. Das am 30. März verabschiedete, so genannte Coronavirus-Schutzgesetz gestattet dem Ministerpräsidenten ein unbefristetes Regieren per Dekret. Von dieser Möglichkeit hat Orbán seither ausgiebig Gebrauch gemacht: Er erließ bisher insgesamt 124 Dekrete (Stand 12. Mai). Hinzu kommen Dutzende weiterer Regierungsentscheidungen und Anordnungen einzelner Ministerien.

Riesige Menge an Gesetzen modifiziert

Viele Dekrete schränken die Arbeit der Justiz, den Datenschutz, die Informationsfreiheit und andere Bürgerrechte stark ein. Zwar fordert das Notstandgesetz, dass Dekrete der Coronavirus-Bekämpfung dienen müssen. Doch das ist in vielen Fällen nicht erkennbar, zum Teil wird in den Dekreten nicht einmal nominell darauf hingewiesen. "Es scheint, dass die Regierung die Situation ausnutzt und eine riesige Menge an Gesetzen modifiziert, wofür sie sonst durch die parlamentarische Prozedur viel länger bräuchte", sagt Máté Szabó von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (TASZ), einer der wichtigsten ungarischen Bürgerrechtsorganisationen, gegenüber der DW.

Viktor Orbán (re.) und sein stellvertretender Premierminister Zsolt Semjén am 30. März im Parlament - dem Tag, an dem das Notstandsgesetz verabschiedet wurdeBild: picture-alliance/AP/MTI/Z. Mathe

Wenn man das ungarische Amtsblatt Magyar Közlöny systematisch durchgeht und die Dekrete auswertet, dann zeigt sich die ganze Tragweite der Orbánschen Gesetzesänderungen. Im Justizbereich können Zivil- und Strafprozesse während des Notstands unbefristet verschoben werden. Über Anträge von Gefangenen und Untersuchungshäftlingen müssen Gerichte nicht zwingend entscheiden. In Verfahren müssen einstweilige Verfügungen zugunsten von Beklagten oder Betroffenen nicht mehr erlassen werden. Bestimmte Verfahren, beispielsweise Entschädigungsklagen, dürfen während des Notstands nicht geführt werden.

Ebenfalls stark eingeschränkt sind Informationszugang und Datenschutz: Die Frist für den öffentlichen Informations- und Auskunftsanspruch gegenüber staatlichen Stellen wurde verdreifacht, sie kann bis zu 90 Tage betragen. Teile der europäischen Datenschutzverordnung GDPR wurden außer Kraft gesetzt. Der Minister für Innovation und Technologie darf auf sämtliche verfügbaren Personendaten zugreifen, Bürger sind verpflichtet, dabei Hilfe zu leisten.

Intransparente Wirtschaftsmaßnahmen

Die Kompetenzen von Sicherheitskräften wurden massiv ausgeweitet. So darf die Polizei jederzeit und an jedem Ort Personen- und sonstige Kontrollen durchführen, außerdem hat die Armee polizeiliche Befugnisse. Praktisch außer Kraft gesetzt ist dagegen das Arbeitsrecht - Arbeitgeber und Arbeitnehmer dürfen in Verträgen von sämtlichen Bestimmungen abweichen.

In vielen Dekreten geht es um intransparente oder anlassbezogene Wirtschaftsangelegenheiten. So etwa kaufte der ungarische Staat von Orbáns Schulfreund und "Strohmann" Lörinc Mészáros, einem der reichsten Ungarn, ein Energieunternehmen mit einem defizitären Kraftwerk zu einem offensichtlich überhöhten Preis. Staatliche Beschaffungsmaßnahmen brauchen erst nachträglich auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden, eine Frist besteht nicht. Ebenso dürfen EU-Fördergelder ohne Risikoanalyse oder Inspektionen vor Ort ausgezahlt werden. Zudem wurden 140 systemrelevante Unternehmen, darunter auch Niederlassungen ausländischer Firmen, unter militärische Aufsicht gestellt, wobei das Verteidigungsministerium Einsicht in alle Geschäftsunterlagen hat.

Der Budapester grüne Oberbürgermeister Gergely Karácsony ist ein prominenter Kritiker des ungarischen PremierministersBild: Reuters/T. Kaszas

Parlament ausgeschaltet

Bestimmte Maßnahmen richten sich gezielt gegen die Opposition - so fließen 50 Prozent der Parteienfinanzierung nun in einen Anti-Corona-Fonds. Orbáns Partei Fidesz schadet das kaum, weil viele ideologische Kampagnen unter dem Siegel der Regierung laufen und aus Steuergeldern bezahlt werden. Auch kann die Regierung Sonderwirtschaftszonen einrichten - in einem Fall nahm sie dadurch einer oppositionsgeführten Kleinstadt die Gewerbesteuereinnahmen weg. Orbán ordnete auch die Aussetzung von Parkgebühren für Kraftwagen an - sie sind besonders für größere, oppositionsgeführte Städte eine Einnahmequelle.

Zwar gelten die Dekrete selbst formal nur während des Notstands. Der TASZ-Rechtsexperte Máté Szabó sagt jedoch, dass vieles dauerhaft bestehen bleiben werde, entweder durch sekundäre Entscheidungen infolge von Dekreten oder aber, weil es sich naturgemäß nicht rückgängig machen ließe, etwa Wirtschafts- und Finanzmaßnahmen. Am schwerwiegendsten erscheint ihm jedoch etwas anderes: die fehlende parlamentarische Kontrolle der Dekrete. Normalerweise sieht die Verfassung während eines Not- oder Ausnahmezustands dafür eine 15-Tage-Frist vor - sie entfällt jedoch durch die Bestimmungen des Notstandsgesetzes völlig. "Formal tagt das Parlament zwar, weil es über Gesetze debattiert", sagt Máté Szabó. "Aber die Dekrete werden nicht überprüft. Deshalb ist das Parlament in Wirklichkeit ausgeschaltet."

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