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PolitikTürkei

Kopftuch: Das politisierte Kleidungsstück

16. Oktober 2022

In der Türkei will die säkulare Opposition das Tragen des Kopftuches liberalisieren - und schießt ein Eigentor, das Präsident Erdoğan in die Hände spielt. Männer streiten einmal mehr über die Kopfbedeckung der Frauen.

Frauen mit Kopftuch in Eminonu, Istanbul, Türkei
Shoppen im lokalen Basar - hier mit Kopftuch und MaskeBild: SEDAT SUNA/EPA-EFE

In der Türkei gibt es kaum ein anderes politisches Symbol, das die Gesellschaft stärker spaltet als das Kopftuch. Die türkische Staatsräson betrachtete das Kopftuch jahrzehntelang als eine Gefahr für den modernen und säkularen türkischen Staat. Für Staatsgründer Atatürk verkörperte das Kopftuch einen rückwärtsgewandten Islam.

Noch 1999 war es ein Skandal, als die Abgeordnete Merve Kavakçı mit Kopftuch den Plenarsaal des Parlaments betrat. Der sozialdemokratische Premier Bülent Ecevit schrie damals vom Rednerpult: "Das ist kein Ort, um den Staat herauszufordern!" Und 2007 gab es eine hitzige identitätspolitische Debatte, als mit Abdullah Gül zum ersten Mal ein Staatspräsident gewählt werden sollte, dessen Ehefrau Kopftuch trug. Was für Säkularisten ein No-Go, war für die Islamisten der regierenden AKP ein Muss.

Mehr als die Hälfte der Türkinnen geht mit Kopftuch aus dem Haus - und knapp die Hälfte mit offenem HaarBild: Emre Eser/DW

Bis vor 15 Jahren mussten türkische Studentinnen ihr Kopftuch  ablegen, um eine Universität betreten, sprich: um überhaupt studieren zu dürfen. Auch im öffentlichen Dienst beschäftigte Frauen durften sehr lange kein Kopftuch tragen. Mittlerweile ist die rechtspopulistische AKP seit 20 Jahren an der Macht und hat Einschränkungen und Verbote des Kopftuchs weitgehend abgeschafft.  

Säkularisten auf Stimmenfang - mit Kopftuch

Ziemlich überraschend war es dann, als ausgerechnet Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vor zwei Wochen ankündigte, dass seine Partei das Recht aufs Kopftuchtragen gesetzlich absichern will. Immerhin ist seine Partei die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, Gründungspartei der Republik und traditionell skeptisch gegenüber dem Kopftuch. Offenbar ist Kılıçdaroğlu klar geworden, dass ein Wahlerfolg in der Türkei nicht ohne die Frauen mit Kopftuch möglich ist.  Und bei den Wahlen im Juni 2023 möchte er der Oppositionskandidat sein, der Präsident Recep Tayyip Erdoğan herausfordert. Die Sache hat allerdings mehrere Haken. Zum einen sind sich die Oppositionsparteien bisher nicht einig. Sie suchen noch einen gemeinsamen Kandidaten, der Chancen gegen den Amtsinhaber hat. Ob das Kılıçdaroğlu werden wird, ist nicht ausgemacht.  

Auch die Frauen der islamistischen AKP tragen nicht alle Kopftuch: Schnappschuss vom ParteitagBild: DHA

Zum andern ist der Schuss nach hinten losgegangen. Erdoğan hat den Ball geschickt aufgenommen und verkündet, das vorgeschlagene Gesetz reiche nicht aus. Seine Partei wolle stattdessen die Verfassung ändern und das Recht auf Kopftuchtragen im Grundgesetz verankern. Was genau der Verfassungsartikel beinhalten soll, ist bisher nicht bekannt. Durchgesickert ist aber, dass der geschlechtsneutrale Begriff "Ehegatten" in "Mann und Frau" geändert werden soll.

Als einen "unverhohlenen anti-LGBTQ-Schritt" kritisiert das Berk Esen, Politikwissenschaftler der Istanbuler Sabancı-Universität, im Gespräch mit der DW. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen in der Türkei keine Ehe schließen, der geplante Verfassungsartikel hätte allerdings noch eine zusätzliche symbolische homophobe Bedeutung. 

Den Konservativen in die Hände gespielt

Das Eigentor in der Kopftuchdebatte könnte Kılıçdaroğlu politisch teuer zu stehen kommen, meint Berk Esen. Er sei ohnehin kein populärer Politiker gewesen und nun seien "seine Chancen noch geringer", der Kandidat der Opposition zu werden. Er habe die Einheit der Opposition geschwächt und "Erdoğan eine weitere Möglichkeit gegeben, konservative Themen zu platzieren". 

Es schützt auch gegen Sonne, Salz und Wind: Frauen mit Kopftuch am BosporusBild: varbenov/YAY/IMAGO

Das Kopftuch bleibt also ein hochgradig politisiertes Thema, für Säkularisten ebenso wie für Islamisten. Das sagt etwas über die türkische Gesellschaft aus, meint Politikwissenschaftler Esen. "In einer demokratischen Gesellschaft wäre das Kopftuch ein Kleidungsstück gewesen, das eine Frau für religiöse Zwecke trägt. Es hätte keine politische Bedeutung gehabt." 

Die Gesellschaft ist der Politik voraus

Im Gegensatz zur Politik scheinen die Menschen in der Türkei zum Thema Kopftuch gar keinen Diskussionsbedarf zu haben. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll vom Februar 2021 finden rund 83 Prozent der Türkinnen und Türken, dass Frauen im öffentlichen Dienst ein Kopftuch tragen  dürfen. Nur knapp elf Prozent sind dagegen. Sogar die CHP-Wählerschaft befürwortet das Recht aufs Kopftuch zu mehr als 80 Prozent. 

Rund 58 Prozent der Türkinnen legen sich ein Kopftuch um, wenn sie ausgehen, so eine IPSOS-Studie aus dem Jahr 2018. Im Gegensatz zu einigen anderen islamisch geprägten Ländern ist das Kopftuchtragen in der Türkei nämlich formal die private Entscheidung der Frauen - wenn die Männer es nicht gerade wieder zum Thema machen.

Männerpolitik auf dem Rücken der Frauen

Viele Frauen lehnen die gegenwärtige Debatte darum generell ab - sie werde in der falschen Form geführt. "Es ist wichtig, dass diese Rechte und Freiheiten nicht davon abhängig gemacht werden, ob irgendwelche politischen Parteien Wahlen gewinnen oder nicht", kritisiert etwa die Journalistin Nihal Bengisu Karaca im Gespräch mit der DW.

Das früher in vielen Bereichen geltende Verbot des Kopftuchs sei nicht an ein Gesetz gebunden gewesen, sondern es habe auf Geschäftsordnungen oder willkürlichen Anweisungen von Vorgesetzten beruht. Diese Zeiten dürften nicht wiederkehren, betont Nihal Bengisu Karaca. Darum brauche es unbedingt "robustere, dauerhaftere Schritte", die die Entscheidungsfreiheit der Frauen garantierten. Das könnte ein Gesetz sein - aber es brauche zusätzlich einen "Wandel in der Mentalität". Die Debatte werde voll allen Seiten angeheizt, sie sei "nicht nur das Problem der Konservativen", sondern eine Frage der Demokratie.

Die muslimische Feministin Zeynep Duygu Ağbayır schimpft: "Wir haben die Nase voll davon, dass das Kopftuch zu einem Instrument gemacht wird", um Wahlen zu gewinnen - ein Vorwurf, der die säkulare CHP ebenso wie die islamistische AKP einschließt.

Türkei: Frauen wehren sich

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"Was Frauen anziehen sollen, ob sie einen kurzen Rock oder ein Kopftuch tragen wollen, sollte endlich und für immer von der männlichen Politik befreit werden", fordert Özgül Kaptan von der Plattform der Frauen für Gleichheit. 

Im Privatleben erführen viele Frauen schon genug Zwang, erklärt die muslimische Feministin Ağbayır. "Es gibt einige Frauen, die das Kopftuch freiwillig tragen. Es gibt aber auch zahlreiche Frauen, die zum Kopftuchtragen gezwungen werden", von ihren Familien, Ehemännern oder Brüdern. "Das ist das eigentliche Thema, über das wir diskutieren sollten."

Männer sollten die Privatangelegenheiten von Frauen nicht politisieren, so Aktivistin Kaptan. "Man hätte stattdessen sagen sollen: 'Von nun an werden wir eine Gleichstellungspolitik umsetzen, die dafür sorgen wird, dass die Politik sich nicht in die Entscheidung der Frau einmischt, was sie anzieht.' Das wäre die richtige Botschaft für jede Frau aus jeder sozialen Schicht gewesen."

Mitarbeit: Burcu Karakaş

Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.
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