1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Ukraine: Das System schlägt zurück

5. November 2020

Ein höchstrichterliches Urteil löst in der Ukraine eine Verfassungskrise aus. Die politische Klasse wehrt sich damit gegen strikte Antikorruptionsgesetze und setzt die Westbindung des Landes aufs Spiel.

Ukraine Kiew | Anti-Korruptions-Proteste | Verfassungsgericht
Protest gegen Korruption vor dem Verfassungsgericht in Kiew Ende OktoberBild: Sputnik/dpa/picture alliance

Ukrainische Verfassungsrichter haben im eigenen Land einen miserablen Ruf. Umfragen zufolge haben nur noch zwischen fünf und 16 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die Gerichtsbarkeit. Ein Blick auf die wichtigsten Entscheidungen des höchsten Gerichts der Ukraine macht klar, warum. 

Mal gaben die Frauen und Männer in den langen dunkelroten Gewändern einem Präsidenten grünes Licht für eine dritte Amtszeit, obwohl in der Verfassung schwarz auf weiß maximal zwei Amtsperioden stehen. Mal erklärten sie einem Präsidenten zuliebe sogar die Verfassung selbst für verfassungswidrig. Das inkriminierte Grundgesetz hatte zuvor das Parlament ordnungsgemäß mit einer Verfassungsmehrheit novelliert, um das Machtmonopol des Staatsoberhaupts zu brechen. Dieser Staatschef - Viktor Janukowitsch - hat sich 2014 nach einem Volksaufstand gegen ihn und seinen korrupten Clan nach Russland abgesetzt und damit den Weg frei gemacht für einen politischen Neuanfang in der Ukraine. Doch Richter, die Janukowitsch eingesetzt hatte, sind zum Teil nach wie vor im Amt und sorgen regelmäßig für Aufsehen, indem sie eine Reform nach der anderen für verfassungswidrig erklären.

Richter torpedieren Korruptionsbekämpfung

Jetzt gibt es ein neues Urteil, das es in sich hat. Die Richter erklärten Ende Oktober wichtige Antikorruptionsgesetze aus dem Jahr 2015 in großen Teilen für nichtig. Unter Androhung von Haftstrafen verpflichtete dieses Gesetz alle Amtsträger des Landes - inklusive der Verfassungsrichter selbst -, ihre kompletten Besitztümer im In- und Ausland offenzulegen. Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen, Villen und Luxusjachten, Millionen US-Dollar und Euro in bar, Dutzende Nobelkarossen und Designerjuwelen - die Wählerinnen und Wähler konnten nun in einem öffentlichen Register einsehen, was die politische Klasse vor ihnen über Jahrzehnte verbarg. Und sie konnten Fragen über die Herkunft dieser Reichtümer stellen. Neue unabhängige Antikorruptionsbehörden ermittelten wegen illegaler Bereicherung, wenn sich Reichtum nicht vernünftig erklären ließ.

Die politische Klasse will ihre Privilegien behalten: Die Richter des ukrainischen VerfassungsgerichtsBild: AP

Das alles ist nun passé, so der ehemalige Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka im Gespräch mit der DW. "Die Entscheidung der Richter hat zur Folge, dass es nicht mehr strafbar ist, sein Vermögen zu verschweigen oder falsch zu deklarieren. Die Antikorruptionsbehörden können Geldflüsse ins Ausland nicht mehr verfolgen, wenn ein Verdacht auf illegale Bereicherung besteht", so Rjaboschapka, der jahrelang als Experte an der Antikorruptionsgesetzgebung mitgewirkt hatte.

Diese Gesetze torpedierte das Verfassungsgericht jetzt, als es im Eilverfahren einer Klage von 47 Parlamentsabgeordneten der prorussischen Oppositionsplattform recht gab, die in den Antikorruptionsgesetzen einen unzulässigen Eingriff in ihre Privatsphäre sehen. Diese Gesetze - beschlossen auf Druck der westlichen Partner der Ukraine - lehnt die Oppositionsplattform genauso ab wie die europäische Integration des Landes überhaupt.

Auf dem Spiel stehen Kredite und Visafreiheit

Transparenz in die als notorisch korrupt geltenden ukrainischen Eliten zu bringen, war eine Bedingung der westlichen Partner: des Internationalen Währungsfonds als wichtigster Gläubiger der Ukraine und der EU, die mit Kiew 2014 ein Assoziierungsabkommen unterzeichnete und eine Freihandelszone schuf. Belohnt wurden die Reformanstrengungen neben günstigen Krediten auch mit der Visafreiheit für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit 2017 gilt.

"Wir werden die Unterstützung unserer Partner verlieren, wenn wir dieses Problem nicht zeitnah lösen", warnte kurz nach der Verkündung des Urteils des Verfassungsgerichts der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Auch der EU-Botschafter in Kiew, Matti Maasikas, forderte die Politik auf, die Korruptionsbekämpfung nicht zu gefährden und internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

Nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates bezeichnete dessen Chef Oleksij Danilow die Entscheidung der Richter als "Teil eines Plans, der die ukrainische Staatlichkeit und die Westbindung des Landes untergraben soll". Er sieht russische Strippenzieher in Kiew am Werk. Mehr als tausend Aktivisten versammelten sich am 30. Oktober vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts, um gegen die Entscheidung der Richter zu protestieren. Sie verlangten von der Politik, die Antikorruptionsgesetze wieder in Kraft zu setzen und sich zum proeuropäischen Kurs der Ukraine zu bekennen.

Sein Paukenschlag ging daneben: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Bild: Imago Images/ZUMA Press/S. Glovny

Noch am gleichen Tag kam dann der Paukenschlag von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das Staatsoberhaupt veröffentlichte kurzerhand einen Gesetzesentwurf: Alle Verfassungsrichter sollen entlassen, die Skandalentscheidung vom 27. Oktober annulliert und neue Richter nach einem Auswahlverfahren ernannt werden.

Befreiungsschlag oder eine gefährliche Eskalation?

Das Problem: Eine Entlassung der Verfassungsrichter durch das Parlament sieht die Verfassung nicht vor. Daher warnen viele Experten vor unkalkulierbaren Folgen eines solchen Schritts. Die Entscheidung der Richter, so die Experten des angesehenen Zentrums für Politik- und Rechtsreformen, berge zwar Gefahren für das verfassungsrechtliche Staatsgefüge, "indem der wichtigste Schiedsrichter zwischen unterschiedlichen Gewalten im Staat seine Legitimation als solcher verliert". Dennoch wäre der Schaden für den Staat durch eine Demontage des Verfassungsgerichts noch größer. Eine gefährliche Spirale institutioneller Selbstzerstörung würde in Gang gesetzt, mahnen Experten.

Im Parlament findet Selenskyjs Gesetz offenbar sowieso keine Mehrheit. In der ersten Plenarsitzung nach dem politischen Erdbeben warnten Vertreter von proeuropäischen Oppositionsfraktionen davor, der Präsident könne die Macht an sich reißen. Sie forderten, die Antikorruptionsgesetze anzupassen und neu zu beschließen. Aber auch zahlreiche Abgeordnete von Selenskyjs regierender Partei Sluga Narodu verweigern dem Präsidenten in dieser Schlüsselfrage die Gefolgschaft.

Für Ruslan Rjaboschapka und einige Antikorruptionsaktivisten sind Kompromisse aber keine Option. Sie fordern, die Verfassungsrichter sofort zu entlassen und ihre Posten in einem transparenten Auswahlverfahren neu zu besetzen. "Viele Politiker im Parlament wollen genau das. Sie wollen nun neue Gesetze beschließen, die mit der nach wie vor gültigen Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht vereinbar sind. Ein Damoklesschwert schwebt über dem Ganzen und die unliebsame Korruptionsbekämpfung bleibt geschwächt", kritisiert Rjaboschapka.

Ein Ausweg aus dieser Verfassungskrise ist nicht in Sicht. Der Präsident, vor einem Jahr noch im ersten Wahlgang mit einem Erdrutschsieg ins Amt gewählt, verliert offenbar seinen Rückhalt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen