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Politik

Steht Bulgarien vor einem Machtwechsel?

Christopher Nehring
8. Juli 2021

Bei den bulgarischen Parlamentswahlen an diesem Sonntag zeichnet sich ein Ende der Ära von Langzeit-Premier Bojko Borissow ab. Die Protestbewegung will den umstrittenen Politiker gar vor Gericht bringen.

Bulgarien Wahlkampagne in Bulgarien 2021
Plakate des Oppositionsbündnisses "Demokratisches Bulgarien" (l.) und der oppositionellen "Sozialistischen Partei" (r.)Bild: BGNES

Wenn sich die Qualität einer Demokratie an der Anzahl von Wahlen messen ließe, es wäre dieses Jahr gut um Bulgarien bestellt. Im Superwahljahr 2021 gehen die Bulgaren nämlich nicht nur an diesem Sonntag (11.07.2021) an die Urnen, um im zweiten Anlauf eine funktionsfähige Regierung zu wählen. Im September stehen auch noch Präsidentschaftswahlen an.

Zudem wählte das in Südwest-Bulgarien gelegene Blagoevgrad am vergangenen Sonntag (4.07.2021) einen neuen Bürgermeister. Der Sieg von Ilko Stojanow, Vertreter der neu formierten populistischen Protestpartei "Es gibt so ein Volk" von Showmaster Stanislaw "Slawi" Trifonow gilt dabei als Lackmustest für die Parlamentswahlen in dem EU-Mitgliedsstaat.

Stanislaw "Slawi" Trifonow, Showmaster und OppositionspolitikerBild: TV/Handout/REUTERS

"Bei den Parlamentswahlen steht nicht weniger auf dem Spiel als die Frage, wie nach der fast zwölfjährigen Herrschaft von Ministerpräsident Bojko Borissow ein Machtwechsel vollzogen werden kann. Es geht um den Übergang von Borissows "Stabilokratie" - seiner von wirtschaftlicher und außenpolitischer Stabilität, aber auch von Korruption und Machtmissbrauch gekennzeichneten, auf ihn persönlich zugeschnittenen Herrschaft - hin zu einer Reformregierung", so Vessela Tcherneva, Direktorin des European Council of Foreign Relations in Sofia, im Gespräch mit der DW.

Anders als beispielsweise bei den deutschen Bundestagswahlen im September spielen das Krisenmanagement während der COVID-19-Pandemie, die schleppende Impfkampagne und das chronisch schlechte Gesundheitswesen für die bulgarischen Wahlen kaum eine Rolle. Die wichtigsten Themen sind Korruption, Machtmissbrauch, Justizreform, Umweltschutz und der noch immer ausstehende Plan zum Einsatz der Corona-Hilfen der EU.

Außenpolitik und Proteste

Außenpolitisch geht es vor allem um den russischen Einfluss in dem EU-Mitgliedsstaat sowie den eskalierenden Streit um Identität, Sprache und Geschichte mit dem benachbarten Nordmazedonien. Derzeit blockiert Bulgarien den EU-Beitritt des ex-jugoslawischen Landes, wobei eine Lösung auf die Zeit nach den Wahlen verschoben wurde.

Parwan Simeonow, Direktor des Meinungs- und Marktforschungsinstituts Gallup International in BulgarienBild: Parvan Simeonov/Gallup International Bulgaria

"Die Wahl steht ganz im Zeichen der Proteste gegen Bojko Borissow", sagt Parwan Simeonow, Direktor des Meinungs- und Marktforschungsinstituts "Gallup International" in Bulgarien. Vor ziemlich genau einem Jahr brachen Massenproteste aus, die den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten und seines Generalstaatsanwalts Iwan Geschew fordern. Ihnen werden Korruption, politische Willkür und schwere rechtsstaatliche Vergehen vorgeworfen.

Millionenschäden und Abhörmaßnahmen

Die von Staatspräsident Rumen Radew, einem erklärten Gegner Borissows, nach den Wahlen vom April 2020 eingesetzte Übergangsregierung fand dafür zahlreiche Belege: Allein bei Reparaturen von Stauseen sollen hunderte Millionen Euro im wahrsten Sinne des Wortes versickert sein. Und die Protestbewegung selbst wurde, wie der seit April amtierende Innenminister Bojko Raschkow enthüllte, zum Ziel von Abhörmaßnahmen - auf Befehl von Generalstaatsanwalt Geschew und aufgrund des höchstzweifelhaften Verdachts, bei den Protesten werde ein "Umsturz" vorbereitet.

Zelte von Protestierenden gegen Generalstaatsanwalt Iwan Geschew vor dem Justizpalast in Sofia am 9. JuniBild: Nikoleta Atanassova/DW

Vertreter der Protestbewegung fordern deswegen einen Untersuchungsausschuss und möglicherweise einen Gerichtsprozess gegen Langzeit-Premier Borissows. Dazu meint Parwan Simeonow: "Die Proteste, die mit ihnen verbundenen Emotionen und das daraus folgende hohe Ausmaß an Politisierung vor allem der Jüngeren sind die wichtigsten Faktoren für diese Wahl."

Der Auftrag der Wähler

Die über allem stehende Frage für die Wahlen am Sonntag ist also, wie der politische Neustart in Bulgarien aussehend könnte. "Zum ersten Mal in den vergangenen zehn Jahren gibt es eine reale Chance, dass Borissows Herrschaft zu Ende geht - und damit eine ganze politische Epoche. Der Auftrag der Wähler scheint klar: Er richtet sich gegen die etablierten und für die aus den Protesten hervorgegangenen Parteien", so Simeonow gegenüber der DW.

Der bulgarische Langzeit-Premierminister Bojko BorissowBild: Barbara Gindl/APA/picture alliance

Unklar sei aber, ob und wie diese eine parlamentarische Mehrheit und ein funktionsfähige Regierung hervorbringen könnten. Schon nach den Wahlen im April 2020 waren nicht nur Wahlsieger Borissow und seine Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB), sondern auch alle anderen Parteien an der Regierungsbildung gescheitert.

Mehrheit für Protestparteien?

Borissows größter Gegner ist die populistische Partei "Es gibt so ein Volk", die im April knapp auf dem zweiten Platz landete. Deren Gründer und Vorsitzender Trifonow "erinnert nicht nur äußerlich an den jungen Bojko Borissow", meint Simeonow. Die große Frage wird sein, ob "Es gibt so ein Volk" sein Wahlergebnis ausbauen und zusammen mit kleineren Protestparteien eine Mehrheit erreichen kann.

Bulgariens Präsident Rumen Radew (M.) auf einer Demonstration in Sofia am 9. Juli.2020Bild: Reuters/S. Nenov

Ansonsten blieben noch die Möglichkeiten einer Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten - oder einer Fortführung der Übergangsregierung mit Unterstützung durch die Protestparteien. Als Königsmacher könnte sich in diesem Fall Präsident Radew erweisen, der schon bei der Zusammenstellung der derzeitigen Übergangsregierung die Interessen der unterschiedlichen Gruppen geschickt ausbalanciert hatte.

Unklare Mehrheiten und politische Instabilität

Trotzdem gibt Simeonow zu bedenken: "Man sollte Borissow nie abschreiben! 2013 war er schon einmal in einer ähnlichen Situation - und saß nach einem Jahr wieder fest im Sattel. Seine GERB war in den letzten Jahren de facto eine Staatspartei und ist immer noch stark in den Bezirken und Kommunen, der Verwaltung und der Wirtschaft. Sein volkstümlicher Politikstil hat sich allerdings abgenutzt."

Vessela Tchernewa, die Direktorin des European Council of Foreign Relations in SofiaBild: BGNES

Politstrategen und Rechenkünstler werden nach der Wahl vom Sonntag also auf ihre Kosten kommen. "Der Übergang zur Post-Borissow-Ära wird von Instabilität und wechselnden Mehrheitsverhältnissen gekennzeichnet sein. Das scheint nach den langen Borissow-Jahren notwendig, um Reformen auf den Weg zu bringen", fast Vessela Tcherneva für die DW zusammen. Wie viele Reformen eine neue Regierung angesichts von Fragmentierung und dünnen Mehrheitsverhältnissen aber tatsächlich umsetzen kann und welche sie zu Fall bringen könnten, bleibt ungewiss.