1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikKosovo

Kosovo: Konservative Muslime auf dem Vormarsch?

25. August 2023

In der südkosovarischen Stadt Prizren hetzen konservative Muslime gegen den queeren Journalisten Vullnet Krasniqi. Kein Einzelfall. Wie gefährlich ist der radikale Islam im eigentlich liberalen und säkularen Kosovo?

Menschen bei einer Kundgebung mit albanischen Fahnen und Schildern, in der Mitte Polizisten
Protest konservativer Muslime am 11.08.2023 gegen einen Auftritt der Musikerin Peaches beim DokuFest in Prizren, KosovoBild: Philipp Böll/DW

Die Stadt Prizren im Süden Kosovos ist bekannt für ihre Vielfalt. Im Umkreis von nur wenigen hundert Metern stehen hier Moscheen, eine orthodoxe und eine katholische Kirche, bald soll auch eine Synagoge eröffnet werden. Albaner leben hier friedlich mit anderen Volksgruppen zusammen, unter anderem Türken, Roma und Bosniaken.

Doch nun ist Prizren Schauplatz einer Hetzkampagne, die für das Gegenteil von Vielfalt steht: Seit Tagen wird auf übergroßen LED-Bildschirmen zum Boykott des kosovarischen News-Portals Nacionale aufgerufen. Zu sehen sind auf ihnen Bilder des bekannten Journalisten Vullnet Krasniqi, der bei Nacionale arbeitet. Außerdem steht da: "Pressefreiheit endet bei Beleidigungen."

Plakat mit Boykottaufruf gegen das Portal Nacionale in Prizren - mit der Aufschrift: "Meinungsfreiheit endet bei Beleidigungen"Bild: privat

Krasniqi hatte Mitte August über eine Protestaktion von muslimischen Gemeindemitgliedern in Prizren berichtet. Eine kleine, aber lautstarke Minderheit hatte sich an einem Auftritt der feministischen kanadischen Musikerin Peaches gestört, die auch ein Idol der LGBTQ-Community ist. Peaches war mit ihrer Band beim Filmfestival DokuFest in Prizren am 4. August in einem freizügigen Kostüm aufgetreten. Im Aufruf zu einer Protestkundgebung gegen ihre Performance hieß es, dass der Auftritt der Sängerin unvereinbar mit Tradition und Kultur sei, dass er Kinder gefährde und zu "Degeneration" führe.

Polizisten sahen zu

Die Demonstration fand am 11. August vor der bekanntesten Moschee Prizrens statt, unmittelbar nach dem Freitagsgebet. Es kamen um die 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen. Als Vullnet Krasniqi einige von ihnen fragte, worin genau die Kindesgefährdung des Peaches-Auftritts bestehe und was Degeneration bedeute, wandte sich die Stimmung schnell gegen ihn. "Gewalttätige Demonstranten kamen auf mich zu, beschimpften und schubsten mich. Sie forderten mich auf, keine Fragen zu stellen und nicht über den Protest zu berichten", sagt Krasniqi der DW. Bedrängt und umhergeschubst wurde auch Krasniqis Kameramann Arber Arifi. Videoaufnahmen zeigen, wie Polizisten dabei zusehen, statt einzuschreiten.

Der kosovarische Journalist Vullnet Krasniqi bei der Demonstration in Prizren am 11.08.2023.:Wütende Teilnehmer griffen ihn anBild: Ferdi Limani

Kein Einzelfall: Schon zum zweiten Mal in diesem Sommer machen kleine Gruppen konservativer Muslime Schlagzeilen mit Gewalttaten gegen Journalisten. Vor kurzem wurde ein Journalist krankenhausreif geschlagen, weil er in ironischem Tonfall berichtet hatte, dass ein ultrakonservativer Imam aus Prizren zu seiner Pensionierung von Gemeindemitgliedern einen Mercedes geschenkt bekam. Und auch das ist nur einer der jüngsten Fälle: In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Journalisten bedroht oder tätlich angegriffen. Der Grund war neben ihren Berichten zu politischer Korruption häufig auch, dass sie nach Meinung konservativer Muslime angeblich gegen religiöse Werte oder Traditionen verstoßen hätten.

Laizistischer Staat

Eine relevante politische Bedrohung ist der radikale Islam im Kosovo derzeit nicht. Der kosovarische Staat deklariert sich explizit als laizistisch, die allermeisten Kosovaren sehen sich als "Muslime light". Traditionell tragen Frauen keinen Hidschab oder Niqab, sondern - wenn überhaupt - oft nur im Nacken zusammengebundene Kopftücher. Alkoholkonsum ist nicht verpönt. Viele gehen nicht oder nur selten in die Moschee.

Blick auf die Altstadt von Prizren mit der großen MoscheeBild: Philipp Böll/DW

Arbana Xharra, Politologin und mehrfach preisgekrönte kosovarische Journalistin, die inzwischen in den USA zur islamischen Radikalisierung auf dem Balkan forscht, sagt der DW: "Der Islam ist im Kosovo liberal und sozusagen prowestlich ausgerichtet. Aber selbst in dieser Form wird er von den meisten Menschen im Land nicht praktiziert. Auch stellen sie Religion nicht über die Identität der Menschen. Das ist ein klarer Gegensatz zu manchen Ländern des Nahen Ostens, in denen Religion nicht Kultur, sondern Ideologie bedeutet."

Gefährliches Phänomen

Dennoch sieht Arbana Xharra hinter der Kampagne gegen Krasniqi ein gefährliches Phänomen: "Seit dem Ende des Krieges im Jahr 1999 ist zu beobachten, dass radikale islamische Strömungen nach Kosovo eindringen. Sie wollen die geopolitische und kulturelle Ausrichtung des Landes ändern und dem multikulturellen, liberalen und prowestlichen Erbe entgegenwirken. Zur Bedrohung wird das, wenn der Staat diese Strömungen toleriert."

Die kosovarische Journalistin und Politologin Arbana XharraBild: privat

Die Politologin weiß, wovon sie spricht - als Journalistin war sie wegen ihrer Berichte über radikale Islamisten im Kosovo selbst jahrelang Hetzkampagnen und Drohungen ausgesetzt und wurde unter anderem als "Hure der Juden" beschimpft. Im Mai 2017 wurde sie neben ihrem Wohnhaus in Pristina brutal überfallen und verprügelt. Einige Monate später verließ sie Kosovo, nachdem sie von Attentatsplänen gegen ihre Person erfahren hatte. Wer sie 2017 angriff, ist bis heute unklar. "Selbst nach sechs Jahren hat die Polizei nichts unternommen, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft", sagt Arbana Xharra resigniert.

Homosexualität "unmoralisch"

Insgesamt ist das Bild in diesem Punkt widersprüchlich: Einerseits gingen die kosovarischen Behörden in den vergangenen Jahren gegen einen bestimmten Teil aus dem Spektrum des radikalen Islamismus sehr hart vor. Schätzungsweise 400 Personen aus dem Kosovo haben sich der Gruppierung Islamischer Staat (ISIS) im Nahen Osten angeschlossen. Rückkehrer und Rückkehrerinnen wurden teils zu langen Gefängnisstrafen verurteilt oder unter staatliche Aufsicht gestellt.

Zwei Frauen küssen sich auf der Pride Parade am 10.06.2023 in PristinaBild: ARMEND NIMANI/AFP/Getty Images

Anderseits bleibt der Staat bei bestimmten Themen oft tatenlos. So etwa im Falle von Angriffen auf unliebsame Journalisten - Behörden ermitteln vielfach nur halbherzig oder gar nicht. Bei Themen, die polarisieren, schweigen Politiker häufig. So auch beim Thema LGBTQ, das konservative Muslime zunehmend für sich entdecken, um propagandistisch aufzutreten. Nominell sind die Rechte queerer Menschen durch die kosovarische Verfassung geschützt. In der Realität genießen sie kaum Schutz. Nicht nur haben viele Kosovaren Vorurteile gegen sie - die muslimischen Gemeinden und auch die meisten Politiker, egal welcher Richtung, lehnen Homosexualität als "unmoralisch" ab.

"Aufhören ist keine Option"

Zwar sprach sich der kosovarische Premier Albin Kurti schon vor längerem für einer Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe aus. Kosovo wäre damit das erste muslimische Land der Welt mit einem derartigen Gesetz gewesen. Doch die Initiative scheiterte im Frühjahr 2022 krachend. Sogar viele Mitglieder und Parlamentsabgeordnete in Kurtis eigener Partei Vetevendosje waren dagegen - obwohl die Partei nominell linke und sozialdemokratische Werte vertritt und einst als Bürgerrechtsbewegung gegründet worden war.

Vom "Islam light" spürte Vullnet Krasniqi bei der Demonstration in Prizren nichts. Womöglich hatten die Angriffe auf ihn auch damit zu tun, dass er selbst bekennender Homosexueller ist und öffentlich für LGBTQ-Rechte eintritt. Jedenfalls ist er noch immer schockiert über die Aktion. "Die Bilder des Angriffs führten zu Tausenden Reaktionen und Kommentaren auf Facebook, die meisten begrüßten den Angriff auf uns", sagt der Journalist. "Ich habe zwar auch viel Unterstützung bekommen, aber das Ausmaß des Hasses in den Facebook-Kommentaren hätte ich nicht erwartet."

Auch in seinem Fall schweigt die kosovarische Regierung. Eine Anfrage der DW zur Hetzkampagne gegen den Journalisten und das Portal Nacionale ließ ein kosovarischer Regierungssprecher bis zur Veröffentlichung unbeantwortet. Krasniqi selbst hat keine Angst. "Aufhören ist keine Option", sagt er. "Und Weitermachen die einzige Möglichkeit, den Angreifern zu zeigen, dass ich keine Angst vor ihnen habe."

Vjosa Cerkini Themen: Kosovo, die anderen Westbalkan-Länder und deren Verbindungen zum Westen