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Neue Erkenntnisse zum Krankenhaus-Angriff in Gaza

31. Oktober 2023

Was die verheerende Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza verursacht hat, ist ebenso schwer zu beweisen wie, wer dafür verantwortlich ist. Doch es gibt eine Reihe Indizien. Wir haben Ermittlungsergebnisse gesammelt.

Gazastreifen | Zerstörung am Ahli Arab Krankenhaus in Gaza
Bild: Abed Khaled/AP Photo/picture alliance

Bereits kurz nach dem mutmaßlichen Raketeneinschlag am Abend des 17. Oktober am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt waren zahlreiche Videos, Spekulationen und Falschinformationen im Netz zu finden, die das verheerende Ereignis erklären sollten. Seither haben viele unabhängige Rechercheteams versucht, Ursache, Hergang und Urheberschaft zu klären sowie die gegenseitigen Beschuldigungen beider Seiten - der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) und der palästinensischen Hamas - zu überprüfen.

Informationsschlacht um die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus

Klar ist bisher, dass der tödliche Vorfall eine der umkämpftesten Informationsschlachten im Zusammenhang mit der Eskalation im Nahostkonflikt  ist, die der groß angelegte Terroranschlag der militant-islamistischen Hamas auf Israel ausgelöst hat.

Gaza: Hunderte Tote bei Raketeneinschlag in Krankenhaus

03:10

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Am 7. Oktober waren Angreifer der Hamas aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen und hatten dort nach israelischen Angaben mehr als 1400 Menschen ermordet. Die Hamas kontrolliert seit 2007 den Gazastreifen und wird vor allem von westlichen, aber auch einigen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestuft. Die IDF haben seit dem Anschlag am 7. Oktober nach eigenen Angaben mehrere Hundert Ziele der Hamas vor allem aus der Luft angegriffen. Nach Hamas-Angaben sind dabei mehr als 7000 Palästinenser getötet worden.

Die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus sticht jedoch als Einzelereignis heraus, weil die Bombardierung von Kliniken gegen die Genfer Konventionen verstößt und  nicht nur in der arabischen Welt eine Welle der Empörung ausgelöst hat. Dass bei solch einem Ereignis eine erhebliche Anzahl Menschen gestorben sind, ist plausibel. Das Hamas-geführte Gesundministeriums beziffert sie mit 471. Laut IDF ist die Zahl übertrieben. Offizielle US-Quellen haben eine Schätzung zwischen 100 und 300 Toten abgegeben.

Laut Hamas-Angaben hat die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus 471 Menschenleben gekostet. US-Behörden schätzen die Zahl auf 100 bis 300 Tote.Bild: AFP

 

Die Frage nach der Urheberschaft ist so brisant, dass mehrere von der DW kontaktierte Experten es abgelehnt haben, eine Einschätzung abzugeben, andere habe gar nicht geantwortet.

Was ist am Al-Ahli-Krankenhaus geschehen?

Gegen 19.00 Uhr Ortszeit hat sich eine schwere Explosion auf dem Gelände des Al-Ahli-Krankenhauses im Zentrum von Gaza-Stadt ereignet. Zu den ersten visuellen Quellen, die online auftauchten, gehört ein 20-sekündiges Video, das wohl ein Anwohner aufgenommen hat und auf mehreren Social-Media-Plattformen zirkuliert. Darauf ist eine im Dunkeln liegende Stadt zu sehen und ein Pfeifen zu hören, das zu einer vorbeifliegenden Rakete passt und in einem Explosionsgeräusch mündet. Im selben Moment erhellt ein riesiger Feuerball die Szenerie und eine hell erleuchtete Rauchwolke steigt in den Nachthimmel empor.

Wer ist für die Explosion verantwortlich?

Die Hamas klagte umgehend Israel an, das Krankenhaus bombardiert zu haben. Israel wies jegliche Verantwortung für den Vorfall zurück, vielmehr habe es sich um eine defekte Rakete gehandelt, abgefeuert im Gazastreifen von der Terrororganisation Islamischer Dschihad in Palästina (PIJ).

Mehrere westliche Regierungsvertreter, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, hatten Aufklärung verlangt. Mittlerweile haben unter anderem die Regierungen des Vereinigten Königreichs, Kanadas und Frankreichs erklärt, dass ihre Analysen die israelische Version stützten.

Welche Indizien wurden bisher geprüft?

Weder Vertreter des Krankenhauses noch die Hamas haben bisher Indizien für den Einschlag einer israelischen Rakete am oder im Al-Ahli-Krankenhaus vorgelegt. Für unabhängige Ermittler oder Journalisten ist es nach wie vor nahezu unmöglich, vor Ort zu recherchieren. Deshalb haben diverse Medien und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) verfügbare Aufnahmen ausgewertet.

Dazu gehören Fotos des Parkplatzes auf dem Krankenhausgelände, auf dem die Rakete wohl eingeschlagen ist, Videos, die den Einschlag zeigen sollen, sowie die Tonspuren der Videos und andere Audioquellen.

Forensische Analysen von Tonmaterial

Am 20. Oktober veröffentlichte der britische Sender Channel 4 die Bild- und Tonanalysen mehrerer auf Ermittlungen spezialisierter NGOs. Eine davon ist Earshot, die nach eigenen Angaben Audioanalysen durchführt, um Menschenrechte zu verteidigen.

Laut Lawrence Abu Hamdan, dem Leiter der Investigativabteilung bei Earshot, lässt sich anhand des Dopplereffekts ermitteln, aus welcher Richtung eine Rakete abgefeuert wird. Der nach dem österreichischen Physiker Christian Doppler benannte Effekt erklärt die unterschiedliche Wahrnehmung der Tonhöhe, die durch Stauchung und Dehnung von Schallwellen entsteht, wenn sich die Schallquelle relativ zum Rezipienten bewegt. Deswegen klingt etwa ein Martinshorn höher, wenn sich der Krankenwagen nähert und tiefer, nachdem er vorbeigefahren ist.

Kennt man also den Standort mehrerer Kameras, die das Heulen einer Rakete aufgezeichnet haben, lässt sich damit die ungefähre Flugrichtung der Rakete bestimmen. Dieser Analyse zufolge kam die Rakete, die das Krankenhaus getroffen haben soll, aus östlicher Richtung. Dies würde der These der IDF widersprechen, die den Abschussort südwestlich des Krankenhauses verorten.

Allerdings habe diese Ermittlungstechnik ihre Grenzen, erklärt Tilman Wagner, DW-Experte für Open-Source-Recherchen. Ein exakter Ort, von dem aus die Rakete gekommen sein muss, lasse sich so nicht bestimmen.

Haben israelische Geheimdienste ein vielsagendes Hamas-Gespräch abgehört?

Eine zweite Tonquelle ist ein angebliches Gespräch zwischen zwei Hamas-Kämpfern, das die IDF veröffentlicht haben. Darin unterhalten sich zwei Männerstimmen auf Arabisch darüber, wie eine vom PIJ abgefeuerte Rakete versagt habe und im Al-Ahli-Krankenhaus eingeschlagen sei.

Schon Tonalität und Sprache ließen zwei arabischsprachigen Experten von Channel 4 an der Authentizität der Aufnahme zweifeln. Die forensische Analyse nährt diese Zweifel, denn demnach besteht das veröffentlichte Audio aus zwei verschiedenen Tonspuren, die zusammengeschnitten wurden. Der Grad an Manipulation disqualifiziere die Aufnahme als glaubwürdiges Indiz, urteilt Earshot.

DW-Experte Wagner sieht das ähnlich: Auch wenn die Analyse nicht 100 Prozent präzise sei, könne sie ein Hinweis darauf sein, dass hier tatsächlich verschiedene Audioquellen so zusammengeschnitten seien, dass sie ein Gespräch ergeben.

Analyse des Einschlagkraters

Als eines der entscheidendsten Indizien wird der Krater gesehen, den der Einschlag offenbar auf dem Parkplatz des Krankenhauses hinterlassen hat. Der nämlich kann Hinweise auf die Richtung geben, aus der ein Projektil gekommen ist, und um welche Art und Größe von Geschoss es sich handelte.

Dieser Spur sind die Journalisten des Investigativkollektivs Bellingcat nachgegangen. In ihrer Analyse zitieren sie den ehemaligen UN-Ermittler für Kriegsverbrechen Marc Garlasco, der nun als Militärberater bei der niederländischen NGO PAX arbeitet.

Sein Befund stützt die Behauptung der IDF: Laut einem X-Post von Garlasco würde nämlich selbst die kleinste "JDAM" einen Drei-Meter-Krater hinterlassen. JDAM sind US-Lenkbomben, die auch die israelische Luftwaffe einsetzt. "Was immer das Krankenhaus in Gaza getroffen hat, es war kein Luftangriff", schreibt Garlasco.

In einem anderen Post verweist er darauf, dass die Hamas bisher keine Überreste des Geschosses präsentiert hat: "In 20 Jahren, in denen ich Kriegsverbrechen untersuche, ist es das erste Mal, dass ich keine Waffenüberreste gesehen habe. Und ich habe in drei Kriegen in Gaza gearbeitet."

Auch Nathan Ruser, Analyst beim Australian Strategic Policy Institute, das teilweise vom australischen Verteidigungsministerium finanziert wird, hat auf X angemerkt, dass die Bilder nach dem Einschlag nicht auf eine massive Detonation hinweisen, wie ein Luftangriff sie verursacht hätte.

Channel 4 hat die Kraterbilder mit Hilfe von Forensic Architecture, einer Rechercheagentur an der Universität London, ausgewertet. Demnach müsste die Rakete aus nordöstlicher Richtung gekommen sein. Dies stützt eher den Befund von Earshot als die Behauptung der IDF.

Zeigt das Al-Jazeera-Video überhaupt die tödliche Rakete?

Eines der Videos, dem viele - auch staatliche - Analysen zugrunde liegen, hat nach Recherchen der "New York Times" überhaupt nichts mit dem Einschlag am Al-Ahli-Krankenhaus zu tun. Der Clip stammt aus einem Live-Stream des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera und zeigt eine aufsteigende Rakete, dann eine kleine und kurz darauf eine größere Explosion am Himmel - beide auf der Flugbahn der Rakete. Dann ist etwas abseits die Explosion am Krankenhaus zu sehen.

Der NYT-Analyse nach kommt die Rakete gar nicht aus Gaza, sondern von israelischem Territorium. Und sie scheine über der Grenze zwischen Gaza und Israel zu explodieren - mindestens drei Kilometer entfernt von dem getroffenen Spital: "Die Rakete in dem Video ist höchstwahrscheinlich nicht das, was die Explosion am Krankenhaus verursacht hat", heißt es in der NYT. Dennoch sei die israelische Darstellung, ein palästinensischer Querschläger habe die Katastrophe ausgelöst, plausibel.

Widersprechen sich die Analysen wirklich so stark?

Eine Analyse der "Washington Post" könnte der Schlüssel sein, um mehrere scheinbar widersprüchliche Analyseergebnisse übereinzubringen. Die US-Zeitung hat vier verschiedene Videos zeitlich synchronisiert: Das eben genannte Al-Jazeera-Video, das Video eines Anwohners (beide wurden auch von Earshot akustisch ausgewertet) sowie die beiden Clips einer israelischen Überwachungskamera und einer Live-Webcam nahe Tel Aviv.

Demnach wäre die Rakete aus Gaza Richtung Osten abgeschossen worden. Dann habe sie aufgrund eines Triebwerkfehlers - laut "Post" zu erkennen an der ersten, kleineren Explosion am Himmel - die Richtung gewechselt und sei wieder westwärts geflogen. Dies würde auch erklären, warum Einschlagkrater und Tonanalysen darauf hindeuten, dass das Projektil aus östlicher Richtung kam.

Warum ist es so schwierig herauszufinden, was passiert ist?

Praktisch alle Experten betonen, dass ihre Analysen nur vorläufig seien. Video-Journalist Riley Mellen, der in der Abteilung Visual Investigations der New York Times arbeitet, nannte der DW drei Hauptherausforderungen: die Dunkelheit, die kleine Menge an Bildmaterial und die zeitliche Zuordnung dessen, was zu sehen ist.

"Dadurch, dass sich die Explosion bei Dunkelheit ereignet hat, war es nicht nur unglaublich schwierig, die Orte zu lokalisieren, die zu sehen waren, sondern auch zu erkennen, was überhaupt geschehen war." Wäre das bei Tageslicht passiert, wäre das wesentlich einfacher gewesen, meint Mellen.

Klarheit könnte nach Expertenmeinung nur eine umfassende Untersuchung vor Ort bringen. Doch dass die jemals stattfinden wird, wirkt zurzeit höchst unwahrscheinlich.

Dieser Artikel ist in einer früheren Version auf Englisch erschienen.

Rachel Baig Redakteurin und Moderatorin im DW-Faktencheck-Team, Medientrainerinrachel_baig
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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