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Politik

"Die dunklen Seiten der Globalisierung"

Alexandar Detev
3. Juni 2020

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev beschreibt in seinem neuen Buch die Lehren, die Europa aus COVID-19 ziehen sollte. Das Virus könnte die Europäer lehren, dass Nationalismus wirtschaftlich nicht nachhaltig ist.

Ivan Krastev im DW Interview
Ivan Krastev im DW-Interview Bild: DW

DW: Herr Krastev, Ihr neues Buch "Ist es schon morgen?" wird bald auf 19 Sprachen erscheinen. Sie beschreiben darin sieben Paradoxa der Corona-Pandemie, aber letztlich handelt das Buch von der Zukunft der Globalisierung. Das erste Paradoxon könnte man so beschreiben: Das Virus ist ein Produkt der Globalisierung - und gleichzeitig treibt es sie voran. Wie kann das erklärt werden?

Ivan Krastev: Für mich war die größte persönliche Entdeckung, dass wir eine große Krise verfolgen, die sehr viele Gesichter hat und deren Bewegungen in sehr unterschiedliche Richtungen gehen. Zum Beispiel zeigt Corona sehr deutlich die dunklen Seiten der Globalisierung. Interdependenz, wirtschaftliche Interdependenz, wird nicht mehr nur als Quelle der Sicherheit gesehen, sondern auch als Quelle der Unsicherheit.

So stellen wir zum Beispiel wir fest, dass wir komplett abhängig sind von Medizinprodukten, die von der anderen Seite der Welt kommen. Und, dass wir uns im Moment der Krise nicht darauf verlassen können, dass sie bei uns ankommen. Zur gleichen Zeit entdeckten wir, dass das Virus, das auf der anderen Seite der Welt entstanden ist, das Leben eines jeden von uns verändern kann. Das sind die dunklen Seiten der Globalisierung.

Gleichzeitig erleben wir jedoch auch eine Globalisierung des Geistes jedes Einzelnen. Plötzlich beginnen wir, in einer gemeinsamen Welt zu leben. Stellen Sie sich jemanden vor, der keine Fremdsprache spricht und in einer kleinen Stadt oder einem kleinen Dorf wohnt. Dieser Mensch kann sich durch die verschiedenen TV-Kanäle schalten und all diese Sprachen hören, von denen er kein Wort versteht - aber er weiß genau, worum es in den Hauptnachrichten in jeder einzelnen Sprache geht, weil die Welt nur über eine Sache spricht.

Wir haben begonnen, in einer Welt der globalen Vergleiche zu leben. Bisher habe die Menschen immer verglichen, was in Ihrem Land passiert, was Ihre Regierung tut und was in anderen Ländern passiert. Diese Öffnung des Geistes in dem Moment, als wir unsere Türen schlossen und uns sozial distanzierten, ist eines dieser Paradoxe, die mich sehr anziehen.

Schweden im Park in Stockholm: Distanzregeln werden quasi nicht beachtetBild: Imago Images/H. Montgomery

In ihrem neuen Buch stellen Sie fest, dass die Europäer in Zeiten wirtschaftlicher Ängste möglicherweise erkennen, dass Nationalismus wirtschaftlich nicht nachhaltig ist. Schweden hat in der Pandemie einen eigenen Weg gewählt, ist aber jetzt mit den gleichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie das übrige Europa. Wird die Europäische Union in der kommenden, durch COVID-19 verursachten Finanzkrise eine stärkere Rolle spielen als im Kampf gegen das Virus selbst?

Sicher! Und das sehen wir grundsätzlich auch bereits, der Merkel-Macron-Vorschlag ist ein guter Beleg dafür. Und Schweden ist wirklich ein klassisches Beispiel dafür, dass welche Entscheidung auch immer eine Regierung fällt: Was mit Ihrer Wirtschaft passieren wird, hängt immer auch davon ab, was andere Regierungen entscheiden.

Schweden hat beschlossen, seine Wirtschaft nicht herunterzufahren - in der Hoffnung, so die wirtschaftlichen Kosten der Krise stark begrenzen zu können. Sie schließen nicht - aber andere schließen. Deshalb können all die Lastwagen, die normalerweise in den Volvo-Fabriken in Schweden hergestellt werden sollten, nicht hergestellt werden, weil Teile, die aus den anderen Teilen Europas oder der Welt bezogen werden, nicht mehr ankommen. Am Ende werden wir in einer Situation stecken, in der der wirtschaftliche Niedergang dieses Jahr in Schweden höher sein wird als in einigen Ländern wie Österreich oder Polen, deren Wirtschaft völlig heruntergefahren wurde.

Wenn sich die Welt wirklich in Richtung Protektionismus bewegt, wenn auf die Globalisierung eine Regionalisierung und ein gewisses Maß an De-Globalisierung folgt: Die meisten europäischen Staaten, selbst die größten wie Deutschland und Frankreich, sind zu klein, um wirtschaftlich protektionistisch sein zu können.

Die Corona-Krise in Europa: Arbeiter vor leeren Containern im Hamburger HafenBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Sie stellen die Behauptung in Frage, dass autoritäre Regime den Kampf gegen COVID-19 besser bewältigen als demokratisch gewählte Regierungen - und identifizieren zwei Hauptfaktoren für die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie. Welche?

Zu Beginn der Krise schien es völlig vernünftig anzunehmen, dass sie autoritäre Regime besser bewältigen könnten als demokratische; was wir aber tatsächlich sehen, ist etwas völlig anderes: Manche autoritären Regime haben Corona gut in den Griff bekommen - und andere nicht.

Die Natur des politischen Regimes war also nicht der entscheidende Faktor. Es gab drei weitere: Erstens das grundsätzliche Vertrauen in die Bevölkerung. In diesem Typ Krise kann man Leute nicht verhaften und denken, so werde die Krise bewältigt. Die Leute sollen beginnen ihre Hände zu waschen. Dafür braucht man ein gewisses Maß an Vertrauen, grundsätzlich müssen die Leute auf die Botschaft der Regierung ansprechen.

In einer Gesellschaft mit hohem Vertrauen wie Deutschland - und um ehrlich zu sein auch China, wo das Vertrauen in die Regierung ebenfalls ziemlich hoch ist - funktionierten einige der Corona-Richtlinien gut. In Ländern wie Iran half autoritär sein nicht wirklich dabei, eine Reaktion der Art zu erreichen, die die Regierenden wollten.

Der zweite Faktor sind natürlich die Kapazitäten des Staates. Nicht einfach, wie viel Geld für den Gesundheitssektor ausgegeben wurde, sondern auch, wie gut der Staat organisieren, wie schnell er umdisponieren, wie er kommunizieren kann.

Der dritte Faktor sind die Erfahrungen mit derartigen Infektionen. Es ist kein Zufall, dass einige der asiatischen Länder wie Hongkong, China oder Singapur, die unterschiedliche Formen der Regierung haben, gleich zu Anfang ziemlich effektiv reagierten, da sie vor nur zehn, fünfzehn Jahren Erfahrung mit einer ganz ähnlichen Krise gesammelt haben - und daher mehr Masken haben als sonst irgendwer.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Die deutsche Übersetzung seines neuen Buches "Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert" erscheint am 16. Juni bei Ullstein.

Das Gespräch führt Alexandar Detev.

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