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Eine Busfahrt gegen die Demenz

Katharina Peetz
17. September 2018

Der "Traumbus" in einem Pflegeheim in den Niederlanden nimmt Demenzkranke mit auf einen virtuellen Roadtrip. Die Attrappe beruhigt die Bewohner, lenkt sie ab und bringt sogar die ein oder andere Erinnerung wieder hervor.

Annie, Truus und Rudi (von links) sitzen in der Bus-Attrappe im Pflegeheim in Doetinchem.
Annie, Truus und Rudi (von links) unterhalten sich über das Video, das sie in der Bus-Attrappe im Pflegeheim in Doetinchem sehen.Bild: DW/K. Peetz

"Hoppala." Truus Ooms lässt sich auf den schwarzen Ledersitz im Bus fallen. "So, ich sitze." Rechts neben ihr nimmt ihre Freundin Annie Arendsen Platz und zupft sich die weiße Dauerwelle zurecht. Ihre Rollatoren haben die Seniorinnen neben sich abgestellt. Praktisch, dass dieser Bus ebenerdig ist. Kaum sitzen die beiden Frauen, fangen sie auch schon an, darüber zu plaudern, was sie aus dem Fenster des Busses sehen: "Die Straße kenne ich nicht", sagt die 83-jährige Annie. "Ach doch, da an der Ecke ist ein Café."

Das, was sie sehen, ist ein Video. Und der Bus, in dem sie sitzen, ist eine Attrappe. Er steht im Eingangsbereich des Pflegeheims "Sensire Den Ooiman" in Doetinchem in der Nähe von Arnheim in den Niederlanden. Hier leben Annie und Truus, denn sie haben Demenz.

Eingangshalle erinnert an Dorfplatz

In den Niederlanden leben derzeit etwa 260.000 Menschen mit Demenz. Ein Großteil von ihnen wird zu Hause betreut und gepflegt. In Pflegeheimen wohnen überwiegend Menschen, bei denen die Krankheit schon weit fortgeschritten ist.

Im "Sensire Den Ooiman" in Doetinchem gibt es einen eigenen Wohnbereich für Demenzkranke. Wer die Eingangshalle betritt, läuft nicht über quietschenden Linoleumboden, sondern über Pflastersteine. Alte Straßenlaternen und Parkbänke erinnern an einen Dorfplatz. Links von der Eingangstür steht seit etwas mehr als einem Jahr die Bus-Attrappe mitsamt Haltestelle.

Rudi sitzt am Steuer des "Traumbus" - seine Reflexe beim Fahren funktionieren trotz Demenz.Bild: DW/K. Peetz

Die Idee zu dem so genannten "Traumbus" hatte Tina Lindenhovius. Sie hat sich um die Innenausstattung, die alten Bussitze, das große Lenkrad, die Gepäckablage mit den Koffern und die Filmaufnahmen gekümmert. Lindenhovius engagiert sich ehrenamtlich im Pflegeheim und hat dafür einen persönlichen Grund: Ihre Oma lebt seit viereinhalb Jahren in der Einrichtung.

Haare schneiden in der Bus-Attrappe

"Das Schöne an dem Bus ist, dass er nicht zu aufregend ist, aber trotzdem eine gute Ablenkung bietet", sagt Tina Lindenhovius. Ihre Großmutter habe beispielsweise Angst davor, nach draußen zu gehen. Ein normales Gespräch mit ihr zu führen, sei aber auch schwierig. Der Bus rege zu Erinnerungen und Unterhaltungen an. Und sei deshalb auch für Besucher eine Attraktion: "Meine Kinder kommen jetzt auch viel lieber hierher, sie streiten immer darum, wer auf dem Fahrersitz sitzen darf", erklärt Lindenhovius lachend.

An diesem Nachmittag sitzt Rudi ten Brink hinter dem Steuer. Der 63-Jährige mit der kleinen Locke am Hinterkopf lebt seit mehr als drei Jahren in dem Heim. Seine Reflexe beim Fahren funktionieren trotz Demenz gut: Biegt das Fahrzeug im Video links ab, setzt er vorschriftsgemäß den Blinker und dreht das große Buslenkrad.

"Wir haben schon mehrmals erlebt, dass Menschen, die sonst kaum noch sprechen, im Bus plötzlich wieder lebhaft werden", erklärt Tina Lindenhovius. Einige Bewohner wanderten auch viel umher, vor allem nachts, sagt sie. Das Video anzuschauen, beruhige sie. "Es gibt auch eine Bewohnerin, die große Angst vor dem Frisörbesuch hat", sagt Lindenhovius. Deshalb schiebe die Frisörin den Stuhl in die Bus-Attrappe – dort lasse sich die Patientin die Haare schneiden.  

Tina Lindenhovius hat das Projekt "Traumbus" umgesetzt. Ihre Großmutter lebt in dem Pflegeheim für Demenzkranke in Doetinchem.Bild: DW/K. Peetz

Viele Bewohner haben ihr Leben in Doetinchem verbracht und verbinden mit den im Video gezeigten Straßen Erinnerungen oder Menschen. So wie Truus: "Hier auf der linken Seite hat meine Oma gelebt", erzählt die 86-Jährige.

"'Es ist eine Scheinwelt"

Martina Roes vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) forscht zur pflegerischen Versorgung von Menschen mit Demenz. Sie betont, dass es wichtig sei, die individuellen Bedürfnisse der Patienten zu berücksichtigen: "Diese Busfahrt zum Beispiel ist vielleicht für eine bestimmte Zielgruppe der Menschen mit Demenz sehr wirksam, also für die, die sich eher erinnern können oder bei denen Busfahren etwas auslöst. Aber für die mit schwerster Demenz eventuell nicht mehr."

Swen Staack leitet das Kompetenzzentrum Demenz Schleswig-Holstein und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Er wolle ein Projekt wie den "Traumbus" nicht grundsätzlich verteufeln, zumal, wenn sich Bewohner darin wohlfühlen. Allerdings sei ein reales Erlebnis, also mit einem echten Bus einen Ausflug zu unternehmen, die bessere Alternative: "Es ist eine Scheinwelt", sagt Staack.

Der "Traumbus" ist Bestandteil eines größeren Konzepts im Pflegeheim in Doetinchem. Die Demenzpatienten sollen sich hier wohl und wie zu Hause fühlen. So gibt es zum Beispiel keinen zentralen Speisesaal. Stattdessen essen je acht Bewohner zusammen in ihrer Küche im jeweiligen Wohnbereich. Die Bereiche sind nach Straßennamen wie "Dorpsweg" oder "Boslaan" benannt. Auf den Fluren stehen rustikale Kommoden und Topfpflanzen. Im Innenhof gibt es eine Minigolfanlage und einen Gemüsegarten, in dem Bewohner, die körperlich noch fit sind, arbeiten können. In einem angrenzenden Bereich werden ein paar Rehe und Schafe gehalten.

Im Innenhof des Pflegeheims in Doetinchem gibt es eine Minigolf-Anlage.Bild: DW/K. Peetz

All diese Elemente gehören zur so genannten Milieutherapie. Darunter werden verschiedene therapeutische Ansätze zusammengefasst, die äußere Gegebenheiten wie die räumliche Gestaltung und innere Faktoren wie die Biografie der Menschen mit Demenz berücksichtigen.

Einheitliche Strategie im Umgang mit Demenz

Die Inneneinrichtung von Heimen spielt dabei eine wichtige Rolle, erklärt Martina Roes vom DZNE: "Menschen mit Demenz erleben Orientierungsprobleme. So dass man unter anderem versucht, Türen eindeutig zu identifizieren. Viele haben zum Beispiel ihre eigenen Bilder angebracht, damit sie wissen: 'Das ist meine Tür.'"

Ein niederländisches Startup entwirft spezielle Wohnungstüren. Sie sind beispielsweise wie die Tür des früheren Hauses eines Heimbewohners gestaltet und sollen so das Wiedererkennen erleichtern. Eine andere Firma aus den Niederlanden stellt spezielles Spielzeug für Menschen mit Demenz her. Im Pflegeheim in Doetinchem gibt es zum Beispiel einen so genannten Zaubertisch: Von der Decke werden animierte Motive wie Fische oder Laubblätter auf den Tisch projiziert. Die Bewohner müssen diese durch Antippen oder Wegwischen verschwinden lassen. 

Ein Pflegeheim in Haarlem hat einen Strandraum eingerichtet: Auf Strandkörben vor Fototapeten können die Bewohner sitzen und Tonaufnahmen vom Meer lauschen, sich an frühere Urlaube erinnern oder einfach nur entspannen.

Kleine Details in der Einrichtung sollen im Pflegeheim in Doetinchem für ein Zuhause-Gefühl sorgen.Bild: DW/K. Peetz

Eine sehr spezielle Form im Umgang mit Demenzkranken ist das Demenzdorf Hogewey, nahe Amsterdam. Hier leben Menschen mit Demenz in einer kompletten Dorfanlage. Es gibt einen Supermarkt, ein Theater und weitere Bestandteile eines Dorflebens. In anderen Ländern, zum Beispiel auch in Deutschland, wurde dieses Konzept kopiert. Swen Staack sieht solche Anlagen kritisch: "Das ist ein geschlossenes Heim. Ich würde mir lieber ambulante Wohngemeinschaften mitten im Dorf wünschen."

Die Niederlande gehören zu den Ländern mit einem nationalen Programm zum Umgang mit Demenz. Deutschland plant eine solche Strategie.

Anders als Deutschland hat die Niederlande bereits 2005 ein einheitliches, nationales Programm zum Umgang mit Demenz an den Start gebracht. Demenzforschung und Forschung zur Versorgung von Menschen mit Demenz gebe es in den Niederlanden schon seit mehr als 20 Jahren, erklärt Martina Roes vom DZNE. Außerdem gebe es eine lange Tradition der Forschung zur Lebensqualität von Menschen mit Demenz in den Niederlanden.

Swen Staack ergänzt: "Ich glaube schon, dass Pflege an sich in den Niederlanden eine größere Rolle spielt. Das gehört da zur kommunalen Daseinsvorsorge. Und ich glaube, sie sind einfach experimentierfreudiger und probieren Sachen aus. Das finde ich sehr positiv."

Im Pflegeheim in Doetinchem hat der vermeintliche Bus mittlerweile sein Ziel erreicht. "Na, da hatten wir einen schönen Trip", sagt Truus scherzhaft. Die beiden Freundinnen bleiben noch ein bisschen sitzen, trinken Kaffee und essen Kekse. Ihren Becher stellt Truus zwischendurch auf dem Boden ab. Praktisch, dass dieser Bus gar nicht ruckelt.

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