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PolitikEuropa

Krieg in der Ukraine: Was könnte ein Ausweg sein? 

5. März 2022

Der russische Krieg gegen die Ukraine wird täglich blutiger. Die ukrainische Armee leistet weiterhin überraschend erfolgreich Widerstand gegen die Invasion. Wer könnte den Kämpfen ein Ende setzen - und wie?  

Deutschland Kundgebung/ Friedensdemo von Fridays for Future Tübingen
Derzeit illusorisch? Demonstranten fordern Frieden für die UkraineBild: imago images/ULMER Pressebildagentur

Während die russischen Truppen ihren Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt Kiew fortsetzen, versuchte am Freitag Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Telefonat den russischen Präsidenten Wladimir Putin davon zu überzeugen, den Angriff zu beenden und Verhandlungen aufzunehmen. Dies folgt ähnlichen Initiativen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und anderer westlicher Politiker. Doch ein Waffenstillstand in der Ukraine scheint noch in weiter Ferne zu liegen. 

"Jeder Krieg geht zu Ende, und in der Regel endet er mit einer Einigung nach Verhandlungen", sagt Marcel Röthig, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es früher oder später zu einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland, wahrscheinlich auch zwischen Russland und dem Westen, kommen wird", so Röthig, derzeit in Deutschland, im Gespräch mit der DW. "Aber leider ist es noch nicht so weit."  

Ukraine: Das Leid der Kinder

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Ukrainische und russische Delegationen haben sich bislang zweimal in Belarus getroffen.

Wer kann vermitteln? 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte erst am Donnerstag erneut seine Bereitschaft zu direkten Gesprächen mit Wladimir Putin erklärt. In der Vergangenheit hat Putin jedoch Interesse an direkten Verhandlungen nur mit US-Präsident Joe Biden bekundet. 

Wer könnte Putin an den Verhandlungstisch bringen? Marcel Röthig meint, dass solche Gespräche von sehr unterschiedlichen Akteuren vermittelt werden könnten, etwa von Israel, der Türkei oder Finnland bis hin zu den Vereinten Nationen oder einem Sonderberater der EU.  

"Dem Frieden eine Chance geben": Eine Demonstrantin in Helsinki Bild: Emmi Korhonen/Lehtikuva/AP/picture alliance

China könnte ebenfalls als Vermittler auftreten, so Röthig, und einen gewissen Einfluss auf Putin ausüben. "China hat kein Interesse an einem destabilisierten Europa und destabilisierten Märkten. Und China ist der letzte verbliebene große Wirtschaftspartner Russlands, so dass Putin dringend chinesische Unterstützung braucht." 

Doch bisher scheint Putin an Gesprächen auf höchster Ebene überhaupt nicht interessiert zu sein. "Ich befürchte, dass er noch nicht genug Verluste erlitten hat, um seine Kriegsziele zu ändern", so Gustav Gressel, Senior Policy Fellow im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Gibt es eine Chance auf einen russischen Rückzug? 

Sollten die russischen Truppen jedoch weiterhin Schwierigkeiten haben, die Oberhand zu gewinnen, könnte der Druck auf Putin steigen, so Gressel in der DW-Sendung To The Point . "Wenn die ukrainischen Truppen noch etwa eine Woche durchhalten, werden wir sehen, ob Putin einem der vielen Kompromissvorschläge zustimmen wird", sagte er.  

Ist es sogar möglich, dass sich die Russen ganz zurückziehen müssen?  Sollten die ukrainischen Streitkräfte den Angreifern weiterhin schwere Verluste zufügen, könnte sich Putin dazu gezwungen sehen. "Wir sollten uns an Stalin erinnern", sagte Gressel. "Er war kein Mensch, der viel auf Menschenleben gab, und er stoppte den Angriff auf Finnland nach 40 Tagen. Es wurde als zu großer Schaden für die Sowjetunion als Großmacht angesehen, dass sie in die Verlegenheit kam, Finnland nicht schnell erobern zu können."  

Von mehreren Seiten rücken russische Truppen auf Kiew vorBild: Karte, Infografik, Ukraine, Russland, Truppen, Invasion, Besetzt, Okkupation, Krieg, Gebiete

Sanktionen und ein möglicher wirtschaftlicher Zusammenbruch Russlands könnten ein weiterer Faktor sein, der Putin dazu zwingt, seine Ziele zu überdenken. Sollte er die Unterstützung eines Teils der russischen Eliten verlieren oder sollte eine Antikriegsbewegung in Russland trotz repressiver Maßnahmen an Zulauf gewinnen, könnte er sich ebenfalls gezwungen sehen, seine Truppen zurückzuziehen. 

Greift die NATO ein? 

Berichte über einen russischen Angriff auf den Atomreaktor in Saporischschja am Freitag haben in ganz Europa Schockwellen ausgelöst. Der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU sagte NDR Info, dass ein gezielter russischer Angriff auf Atomkraftwerke ganz Europa gefährden würde und ein Grund für die NATO sein könnte, aus Gründen der Selbstverteidigung einzugreifen. Dies schloss Bundeskanzler Olaf Scholz aus. Es sei "völlig klar, dass sich die NATO und ihre Mitgliedsstaaten nicht an einem Krieg beteiligen werden". 

Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte zuvor erneut an den Westen appelliert, eine Flugverbotszone über seinem Land durchzusetzen. Doch die NATO-Mitglieder haben dies wiederholt ausgeschlossen. 

"Jeder weiß, wohin das führen würde", sagt Röthig. "Es würde dazu führen, dass NATO-Truppen in direkte Kampfhandlungen mit der russischen Armee verwickelt würden. Das würde uns in eine Eskalation führen, die keiner von uns will, weil es im Grunde der Weg in den Dritten Weltkrieg ist." In einer solchen Konfrontation könnte sich sogar ein nukleares Weltuntergangsszenario entfalten. 

Suche nach einer Verhandlungslösung? 

Wenn es Putin also weiterhin nicht gelingt, die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, und die ukrainischen Streitkräfte auch nicht in der Lage sind, die russischen Streitkräfte zu vertreiben - wie könnte ein Kompromiss aussehen? 

Teil einer Vereinbarung könnte eine föderale Struktur für die Ukraine sein, sagt Röthig, mit einem Sonderstatus für die Regionen Donezk und Luhansk, die seit 2014 teilweise unter der Kontrolle der von Russland unterstützten Separatisten stehen.  

"Es könnte auch sein, dass die Ukraine bereit ist, einen Teil ihres Territoriums abzutreten, wie die Regionen Donezk und Luhansk oder die Krim", so Röthig. Ein Verlust der territorialen Integrität wäre für Kiew jedoch nur schwer zu akzeptieren.  

Die Neutralität der Ukraine könnte eine weitere Verhandlungs-Option sein. "Ich würde davon ausgehen, dass die Ukraine ihre NATO-Ambitionen aufgeben und das Ziel eines künftigen NATO-Beitritts aus ihrer Verfassung streichen müsste", so Röthig. 

Wenn die ukrainische Regierung so weitreichende Zugeständnisse machte, dass Putin sie akzeptierte - würde das ukrainische Volk sie auch akzeptieren? "Das Gute ist, dass der ukrainische Präsident Selenskyj im Moment eine Art Nimbus hat, er hat einen sehr hohen Rückhalt in der Bevölkerung", so Röthig. "Deshalb kann er dem ukrainischen Volk jetzt einen Kompromiss verkaufen." 

Zerstörung nach einem russischen Luftangriff im Stadtzentrum von TschernihiwBild: Dmytro Kumaka/AP/dpa/picture alliance

Doch Röthig verweist auf die europäische Geschichte und mahnt zur Vorsicht. Nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) fühlte sich das besiegte Deutschland durch die Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles zutiefst gekränkt und gedemütigt.  

"Die Ukrainer haben im Moment das Gefühl, sie könnten diesen Krieg gewinnen. Doch dieses Gefühl trügt, denn auf lange Sicht werden sie diesen Krieg verlieren", so Röthig. "Einige könnten dann argumentieren, dass Selenskyj das Land verkauft hätte und die Russen ansonsten besiegt worden wären."  

Eine Verhandlungslösung setzt jedoch voraus, dass auch Putin zu rationalem Handeln zurückkehrt. "Wir haben immer gedacht, dass er tief im Inneren rational ist", so Röthig. "Letztlich handelt er aber rein emotional und das macht ihn unberechenbar. Ich hoffe auf sein Umfeld, seine direkten Berater. Aber wir wissen nicht, auf wie viele von ihnen er wirklich hört und was sie ihm tatsächlich sagen." 

Putsch im Kreml? 

Der Einmarsch in die Ukraine wird weithin als "Putins Krieg" angesehen. Was wäre also, wenn Putin gestürzt würde? 

Sergey Medvedev von den Berliner "Dekabristen", einer Nichtregierungsorganisation, die Demokratie-Aktivisten in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion unterstützt, schließt dieses Szenario nicht aus. "Wenn jetzt und in den nächsten Tagen die ersten Toten in Russland eintreffen, werden sich auch loyale Menschen fragen müssen: Brauchen sie diesen Krieg wirklich? Und brauchen sie dieses Regime wirklich?" 

Doch Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung ist sehr vorsichtig, was ein solches Szenario angeht. Im Westen sollte man nicht zu sehr darauf hoffen, sagt er. "Weil wir nicht wissen, wozu ein Regimewechsel führt und welche Instabilitäten das für uns bedeuten würde." 

Wahrscheinlicher erscheint derzeit, dass die russische Armee mit einem blutigen Krieg große Teile der Ukraine erobert. Auch dann könnte am Ende Frieden stehen: allerdings ein von Moskau diktierter Friede. Viele Beobachter rechnen damit, dass solch ein Friede sehr brüchig wäre und in einen langjährigen Guerillakrieg münden könnte, wie ihn die Sowjetunion in Afghanistan erlebt hat. 

 

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

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