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PolitikNahost

Krieg in Nahost: Gibt es eine Chance auf Frieden?

Peter Hille | Marina Strauß
20. Oktober 2023

Nach dem Terrorangriff der Hamas schlägt Israel im Gazastreifen zurück. Experten warnen, der Krieg könnte sich ausweiten, denken aber auch schon an die Zeit danach.

Eine Frau betet, dahinter Kerzen
Trauer in Tel Aviv nach dem terroristischen Angriff der Hamas mit mehr als 1300 TotenBild: Amir Levy/Getty Images

"Das ist der schlimmste und schwierigste Konflikt, den wir erleben, seit der israelische Staat 1948 gegründet wurde" sagt Pnina Sharvit Baruch vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien, einem Thinktank der Universität Tel Aviv in Israel. Zehntausende Menschen sind in dem seit mehr als 75 Jahren andauernden Konflikt zwischen Israelis und Arabern bereits getötet worden. Und diesmal, so befürchten Experten, könnte ein langer und blutiger Krieg drohen.

Es sei möglich, dass sich der Konflikt zu einem Religionskrieg ausweite, der die ganze Region erfasse, sagt Amjad Shihab, palästinensischer Politikwissenschaftler in Ostjerusalem.

Am 7. Oktober hatten Hamas-Terroristen die Grenze zu Israel durchbrochen und mehrere Massaker verübt, außerdem nahmen sie Geiseln. Die Anschläge wurden von Raketenangriffen flankiert. Die Hamas spricht Israel das Existenzrecht ab und will einen friedlichen Kompromiss verhindern. Sie wird unter anderem von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Seit 2007 kontrolliert sie den Gazastreifen, den Israel abgeriegelt hat. Israel reagiert auf die Angriffe mit Raketen auf Gaza und verhängte auch zeitweise eine vollständige Blockade des Palästinensergebiets.

Worum geht es bei dem Konflikt?

Seit der israelischen Staatsgründung 1948 haben Israel, die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten mehrere Kriege geführt. Etwa 700.000 Palästinenser verließen laut UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser ihre Heimat oder wurden vertrieben - in den Gazastreifen, ins Westjordanland und in die arabischen Nachbarstaaten.

Außerdem flohen bis 1972 rund 800.000 Juden und Jüdinnen nach dem israelisch-arabischen Krieg 1948 aus arabischen und nordafrikanischen Staaten oder wurden von dort vertrieben.

Bis heute stehen weite Teile des Westjordanlands unter israelischer Besatzung. Viele Palästinenser fordern einen eigenen Staat, die Rückkehr der Flüchtlinge und den Abzug zumindest eines Teils der etwa 700.000 israelischen Siedler aus dem Westjordanland und Ostjerusalem - die Siedlungen sind nach internationalem Recht illegal. "Die Besatzung ist das Hauptproblem", sagt der palästinensische Politikwissenschaftler Shihab."Der Zauberspruch für eine Lösung des Konflikts würde lauten: die Besatzung endet."

Für Israel, das sich immer wieder Angriffen und Anschlägen durch extremistische Palästinensergruppen wie Hamas oder Hisbollah ausgesetzt sieht, ist die Anerkennung durch arabische Staaten und die Garantie der eigenen Sicherheit entscheidend. Die israelische Zauberformel würde also lauten: Erst wenn der Terror endet, ist Frieden überhaupt möglich. Auf beiden Seiten haben zuletzt jedoch Hardliner an Einfluss gewonnen, die zu keinerlei Zugeständnissen bereit sind. 

Ist Frieden in Nahost trotz allem möglich?

Einige Experten warnen, der Konflikt könnte sich nun zu einem Krieg ausweiten, der die gesamte Region erfasst. Doch auch das Gegenteil sei möglich, sagt Margret Johannsen im Gespräch mit der DW. Die Hamburger Politikwissenschaftlerin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Nahost-Konflikt und glaubt immer noch an einen Friedensschluss. Trotz der vielen Toten des Hamas-Terrors und des israelischen Bombardements auf Gaza? "Das ist so horrende, dass ich mir vorstellen könnte, dass das ein Weckruf wird. Und ich kann nur hoffen, dass er gehört wird", sagt sie.

Eskalationsgefahr: israelische Stellung an der Grenze zum LibanonBild: Ayal Margolin/JINI/Xinhua/picture alliance

Innerhalb von drei Jahren könne ein Kompromiss erreicht werden, meint Johannsen. "Die Wunden müssen heilen. Man kann nur hoffen, dass es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, zu vermitteln. Ohne Vermittlung geht es nicht." Johannsen sieht hier neue Mächte wie China und Indien oder auch afrikanische Länder in der Pflicht.

Eine Lösung: zwei Staaten

Jahrzehntelang galt die Zwei-Staaten-Lösung als einziger Weg, den Konflikt zu befrieden. Schon 1947 hatten die Vereinten Nationen mit ihrem Teilungsplan einen jüdischen und einen arabischen Staat auf dem Gebiet Palästinas vorgeschlagen. Diesen hatte die arabische Seite jedoch abgelehnt.

Mit den Abkommen von Oslo 1993 erschien eine Zwei-Staaten-Lösung erstmals in der Geschichte des Konflikts in erreichbarer Nähe. Die israelische Armee zog sich aus Teilen des Westjordanlands zurück. Eine neu geschaffene Palästinensische Autonomiebehörde (PA) konnte nun etwa ein Fünftel des Gebiets verwalten, in einem weiteren Fünftel erhielt sie teilweise Kontrolle.

Doch politische Provokationen, Terroranschläge und der Bau weiterer Siedlungen, vor allem aber die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Rabin 1995 zerstörten die Hoffnung, dass irgendwann der Weg für eine Zwei-Staaten-Lösung frei sein könnte. Auf beiden Seiten gelang es Gegnern der Abkommen, weitere Verträge zu verhindern.

"Die Zwei-Staaten-Lösung ist immer noch eine gute Idee", sagt die israelische Expertin Mairav Zonzsein von der International Crisis Group. "Ob sie umsetzbar ist hängt an der Frage, ob die beiden Seiten und die internationale Gemeinschaft bereit sind, ihr politisches Kapital und ihre Energie in die Verwirklichung zu stecken. Viele Menschen glauben heute nicht mehr, dass dies möglich ist."

Rückhalt für Zwei-Staaten-Lösung schwindet

Einer Umfrage des Pew Research Center zufolge hält nur etwa jeder dritte Israeli ein friedliches Nebeneinander mit einem unabhängigen palästinensischen Staat für möglich. Vor zehn Jahren glaubte noch jeder zweite Israeli an die Zwei-Staaten-Lösung. Die Umfrage wurde im Frühjahr 2023 durchgeführt. Nun, nach dem Terrorangriff der Hamas, dürften die Zahlen noch geringer ausfallen, weil auch viele eher säkular und politisch links eingestellte Israelis den Glauben an den Frieden verloren haben.

Viele Muslime weltweit stehen auf palästinensischer Seite: hier Proteste vor dem israelischen Konsulat in IstanbulBild: Emrah Gurel/AP Photo/picture alliance

Ähnlich sieht es im Westjordanland, in Gaza und Ostjerusalem aus, wo das Meinungsforschungsinstitut Gallup vor dem Terrorangriff der Hamas Umfragen durchgeführt hat. Demnach befürwortet dort nur jeder vierte Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung. 2012 sprachen sich noch sechs von zehn Palästinensern dafür aus.

Angesichts der Zersplitterung des Westjordanlands durch zahlreiche israelische Siedlungen hält auch Friedensforscherin Johannsen mittlerweile für ausgeschlossen, dass es dazu kommt. "Ich glaube, die Zwei-Staaten-Lösung ist vorbei", sagt sie.

Zwei Völker, ein Staat?

Johannsen spricht sich deshalb für eine Ein-Staat-Lösung aus. "Jetzt nicht, jetzt gehen erst einmal die Wogen hoch. Aber auf Dauer wäre das etwas, wofür ich plädieren würde." Wenn Israelis und Palästinenser in einem Staat zusammenlebten, dann könnten auch die israelischen Siedler bleiben, wo sie wollen, so Johannsen. 

Fakten aus Beton gegossen: israelische Siedlung Eli im WestjordanlandBild: Ariel Schalit/AP/picture alliance

Meist werden drei Modelle diskutiert, wie ein solcher Staat aussehen könnte. Neben einem echten Einheitsstaat mit starker Zentralregierung wie etwa in Frankreich, wird ein föderaler Staat mit einer schwachen Zentralregierung vorgeschlagen. In solch einem föderalen Staat, etwa nach dem Vorbild Belgiens, hätten jüdische und palästinensische Regionen weitreichende Befugnisse.

Eine Konföderation oder ein Staatenbund würde zwei Territorien mit offener Grenze mit sich bringen, wobei eine gemeinsame israelische und palästinensische Regierung nur für wenige Fragen etwa des Außenhandels und der äußeren Sicherheit verantwortlich wäre. 

"Rezept für einen Bürgerkrieg"

Pnina Sharvit Baruch vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv hält all diese Vorschläge für nicht umsetzbar. Mehr noch: "Ein einheitliches Gebiet mit einer gleichen Anzahl von Palästinensern und Juden zu haben, das ist ein Rezept für einen Bürgerkrieg." Wegen der "immensen Feindseligkeit" zwischen beiden Seiten sei sie schon vor dem Terrorangriff der Hamas zu diesem Schluss gekommen.

Fast die Hälfte der Einwohner auf dem Gebiet von Israel, Gaza, Ostjerusalem und dem Westjordanland sind Araber. Ein Fünftel der israelischen Bevölkerung ist palästinensischer Abstammung: Und viele israelische Juden sind selbst arabischer Abstammung und kommen aus der gesamten arabischen Welt

Viele Israelis befürchten deshalb, dass ein gemeinsamer Staat mit den Palästinensern seine Identität als jüdischer Staat verlieren würde - selbst wenn die Gewalt zwischen den Gruppen aufhörte. Für viele Israelis - und Juden weltweit - ist die Identität als jüdischer Staat auch deshalb so wichtig, weil Israel nach dem Holocaust auch als sicherer Hafen, als Heimstätte für Juden weltweit errichtet wurde.

Insbesondere einige rechtsnationale Israelis plädieren deshalb für einen israelischen Staat, in dem die Palästinenser nur in einzelnen Teilen des Westjordanlands mehr Autonomie ausüben würden als bisher. Das wiederum, so sagen Palästinenser, wäre dann jedoch kein demokratischer Staat, in dem ihnen die vollen Bürgerrechte gewährt würden.

Der Nahostkonflikt: ein unlösbares Problem?

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist mittlerweile zum Synonym geworden für ein unlösbares Problem. "So kompliziert es vielen Menschen auch erscheinen mag, eigentlich ist es sehr, sehr einfach", sagt hingegen die israelische Expertin Mairav Zonzsein. "Sie haben zwei Völker, die hier in Frieden und Sicherheit leben müssen. Und kein noch so großer Terrorismus und keine noch so große militärische Macht haben uns bisher vorangebracht."

Hamas-Terror gegen Israel

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Frieden wird auf Dauer nur möglich sein, wenn beide Seiten Vertrauen ineinander gewinnen. Dazu müsste aber zunächst einmal das Blutvergießen gestoppt werden - danach sieht es momentan nicht aus. Etwas Hoffnung machen könnte der Blick in die Geschichtsbücher. Auch aus so genannten Erbfeinden wie Deutschland und Frankreich wurden mit dem Élysée-Vertrag 1963, knapp zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges, Freunde.

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