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Krieg in Nahost: Stresstest für Schulen in Deutschland

15. Oktober 2023

Der Hamas-Terror gegen Israel und die Gegenschläge in Gaza haben auch Folgen in Deutschland. Die könnten besonders an Schulen zu spüren sein. Was Fachleute jetzt empfehlen.

Polizisten stehen vor dem roten Backstein-Gebäude des Ernst-Abbe-Gymnasiums in Berliner Stadtteil Neukölln
Folge des Hamas-Terrors in Israel: Am Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln soll notfalls die Polizei für Ordnung sorgenBild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

Freude und Zustimmung über den Terror der Hamas gegen Israel im weit entfernten Berlin? Ja, die scheint es zu geben. Bilder von genehmigten und verbotenen Demonstrationen in der deutschen Hauptstadt legen diesen Schluss nahe. Sympathie scheint es aber auch dort zu geben, wo junge Menschen in Mathematik, Kunst und Geschichte unterrichtet werden: in Schulen.

Prügelei zwischen Lehrer und Schüler

Für Aufsehen sorgte kurz nach dem Beginn des Hamas-Überfalls ein Vorfall an einem Gymnasium im Berliner Bezirk Neukölln, in dem etwa die Hälfte der 330.000 dort lebenden Menschen migrantische Wurzeln hat: Im Internet kursiert ein Handy-Video, auf dem unscharf eine Prügelei zwischen einem Lehrer und einem Schüler zu sehen ist. Laut Polizei soll der Teenager mit einer Palästina-Fahne und einem Palästinenser-Halstuch in die Schule gekommen sein.

Im Video ist schemenhaft zu erkennen, wie der Lehrer mit seinem rechten Arm ausholt und den Jungen zu schlagen scheint. Diese Art des Umgangs hält Dervis Hizarci von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) für problematisch: "Statt empörend zu reagieren, hätte der Lehrer den Schüler in eine Erklärungssituation bringen müssen", sagt der Experte und Pädagoge im DW-Gespräch. 

Zu wenig Prävention gegen Antisemitismus?

Dass die Spannungen nun auch an Schulen zunehmen, wundert den selbst aus Neukölln stammenden KIgA-Vorsitzenden überhaupt nicht. Im Kampf gegen Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung sei Prävention entscheidend. Doch daran mangele es seit jeher.

"Wer in 'ruhigen Zeiten' nicht präventiv diese Themen wie etwa Nahostkonflikt oder israelbezogener Antisemitismus behandelt, kann in Krisenzeiten nicht adäquat auf diese Konflikte reagieren. Das ist wie bei einem Erste-Hilfe-Kurs, den man nicht aufgefrischt hat", meint Dervis Hizarci.

"Soll man jemand aus einer jüdischen Schule einladen?"

Seit den Terroranschlägen in Israel und der Gegenangriffe in Gaza erreichten ihn und sein Team besonders viele Anfragen. Der Beratungsbedarf sei groß. "Manche fragen, ob sie eine Gedenkminute abhalten oder ob sie jemand aus einer jüdischen Schule einladen sollen?"

Hamas – die Organisation hinter den Angriffen auf Israel

01:54

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Man habe nicht auf alles die eine Antwort, betont der ehemalige Lehrer, der sich seit über 20 Jahren gegen Antisemitismus engagiert. Aber er hat einen Ratschlag: "Ruhig bleiben und die Emotionen kontrollieren und pädagogisch sinnvoll einbringen!"

KIgA bietet nach Hamas-Angriff zusätzliche Beratungen an

Für Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen bietet KIgA jetzt zusätzlich Beratungen an. Schon nach wenigen Stunden habe man mehr als 40 Anmeldungen bekommen, sagt Dervis Hizarci. Ein Hinweis darauf, wie groß die Verunsicherung an Berliner Schulen zu sein scheint.

Antisemitismus ist dabei allerdings kein Problem, das auf Berliner Schulen mit hohem Einwandereranteil begrenzt ist. Erst im Mai gab es Berichte von zwei Schülern aus dem sächsischen Leisnig, die bei dem Besuch der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Seit Jahren belegen verschiedene Studien Antisemitismus in allen politischen Lagern in Deutschland.

2022 hat das American Jewish Comittee (AJC) die Haltungen der Gesamtbevölkerung in einer repräsentativen Studie des Instituts für Demographie Allensbach ermitteln lassen. Die Umfrage belegte, dass Antisemitismus nicht allein ein Problem der politischen Ränder, sondern "tief verankert" in der Mitte der Gesellschaft sei.

Schubladen im Kopf öffnen: "Essen Neonazis Döner?"

Wie es gelingen kann, junge Menschen für einen toleranten Umgang zu sensibilisieren, weiß der Verein "Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland". Jan Krebs arbeitet dort seit 13 Jahren in der Antisemitismus-Prävention. Zu seiner Zielgruppe gehören Schülerinnen und Schüler aus ethnisch, kulturell und religiös gemischten Klassen. Da kann es schon mal Konflikte und Vorurteile geben.

Was man dagegen tun kann, beschreibt Jan Krebs im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Es ist sehr wichtig, die Schubladen, die da im Kopf sind, mal zu öffnen. Was steckt da eigentlich drin?", fragt sich der Projekteiter immer wieder aufs Neue.

Um die Jugendlichen miteinander ins Gespräch zu bringen, stellen er und sein Team in Workshops unerwartete Fragen – zum Beispiel: "Essen Neonazis Döner?" Mit derlei überraschenden, manchmal absurd anmutenden Gedanken wolle man in ein persönliches Gespräch kommen.

Gute Erfahrungen in Workshops

"Damit machen wir immer wieder gute Erfahrungen", sagt Jan Krebs. "Nicht in jeder Situation, nicht mit jeder Schulklasse, das wäre auch ein Wunder. Aber damit können wir häufig in einen guten Austausch kommen."

Und dabei spielt auch die Umgebung eine wichtige Rolle, in der sich die Schülerinnen und Schüler treffen. Sie sollen sich wohl fühlen, wenn sie in die Räume von "Gesicht zeigen!" kommen. Deshalb kann es passieren, dass sie dazu ermuntert werden, ihre Schuhe auszuziehen und sich gemeinsam auf Kissen zu setzen, die auf dem Teppichboden liegen.

"Wir schaffen eine unerwartete, persönlich gestaltete Atmosphäre für diese gemeinsame Denkarbeit, um die es uns geht." Das sei häufig ein Schlüssel dazu, sich gegenüber den Anderen zu öffnen, weiß Jan Krebs aus langjähriger Erfahrung.

Klaus Seifried über Bildung und Parallelgesellschaften

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Mit den Ursachen von Vorurteilen und Diskriminierung bis hin zu Gewalt beschäftigt sich Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Im DW-Gespräch betont er, dass die allermeisten Kinder und Jugendlichen aus muslimischen Familien in Berlin gut integriert seien. "Nur einige wenige eben nicht."

Israelbezogener Antisemitismus in Parallelgesellschaften

Das liege vor allem an den Familien, die in einer Parallelgesellschaft lebten und zum Teil nicht Deutsch sprächen. "Eltern, die nur wenig Schulerfahrung haben. Bildung ist in diesen Familien nicht wichtig. Sie bekommen ihre Informationen aus arabischen Medien – und das ist das eigentliche Problem", meint Klaus Seifried, der zwölf Jahre als Lehrer an Haupt- und Gesamtschulen gearbeitet hat und 26 Jahren als Schul-Psychologe.

Verschiedene Studien haben in der Vergangenheit gezeigt, dass Antisemitismus unter Menschen mit Einwanderergeschichte und Muslimen nicht generell weiter verbreitet ist als in der Mehrheitsgesellschaft.

Wenn es aber um israelbezogenen Antisemitismus, also beispielsweise Abwertungen und Gewalt gegen deutsche Juden und Jüdinnen wegen Konflikten im Nahen Osten, geht, ist der Anteil von Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund höher. In der "Autoritarismus"-Studie von 2020 beispielsweise stimmten 40,5 Prozent der befragten Muslime und Musliminnen (mit und ohne deutscher Staatsangehörigkeit) entsprechenden israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu, aber nur 5,2 Prozent, 7,1 bzw. 9,4 Prozent der evangelischen, katholischen bzw. konfessionslosen Befragten.

Erziehungspartnerschaft mit den Eltern bilden

Die Schule allein könne das Problem nicht lösen. Man brauche die Eltern dazu, sagt der Bildungsexperte Klaus Seifried.

Man werde nie alle erreichen, ist sich Seifried sicher. Aber entscheidend sei, dass Schule sich um eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern kümmere. "Nur dann wird es uns gelingen, diese Kinder und Jugendlichen ein Stück weit zu integrieren und sie nicht in einer Parallelgesellschaft aufwachsen zu lassen."   

Islamistische Terroranschläge 2015 in Paris: Ein Rettungsteam transportiert eine junge Frau ins Krankenhaus Bild: Thibault Camus/AP Photo/picture alliance

Dass gerade Menschen aus muslimisch geprägten Ländern oft einen anderen Blickwinkel auf die Lage im Nahen Osten haben, wurde Klaus Seifried nach den islamistischen Terroranschlägen 2015 in Paris besonders deutlich. Damals gab es in Deutschland eine Schweigeminute, die er in der S-Bahn erlebte.

"Für Franzosen gibt es eine Schweigeminute"

Alle Fahrgäste seien still gewesen, die S-Bahn habe angehalten. Aber zwei arabische Mädchen hätten sich unterhalten und lautstark gelacht. Als Klaus Seifried sie darauf ansprach, hätten sie gesagt. "Ja, für Franzosen gibt es eine Schweigeminute, aber wenn im Libanon was passiert, dann gibt es die nicht." Dieses Erlebnis habe ihm zu denken gegeben.

Wie sich die Lage an den Schulen in Deutschland unter dem Eindruck der eskalierenden Gewalt in Israel und Gaza entwickelt, ist schwer einzuschätzen. Auch die Polizei ist alarmiert: "Natürlich sind wir im Austausch mit der Bildungsverwaltung, auch mit Blick auf mögliche Maßnahmen wegen Auseinandersetzungen", sagte ein Sprecher der DW. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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