1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kinobesitzer im Streit mit Netflix

Jochen Kürten
28. September 2018

Der Konflikt könnte ein bewährtes System ins Wanken bringen. Auslöser ist der Plan von Netflix, den Film "Roma" zeitgleich im Kino und auf dem Bildschirm zu zeigen. Viele Kinobetreiber wollen das nicht einfach hinnehmen.

Kinostimmung
Bild: AG Kino

Mexiko scheint das Filmland der Stunde. Oscars, Löwen in Venedig und Palmen in Cannes, Regisseure, die das internationale Kino inspirieren, Hollywood, das sich der vielen Talente aus dem Nachbarland bedient - das mexikanische Kino ist derzeit eines der aufregendsten der Welt. Zudem setzen auch Streaming-Anbieter wie "Netflix" auf das mexikanische Publikum und die Kultur des Landes. An diesem Freitag (28.9.) startet die erste mexikanische Netflix-Reality-Serie "Made in Mexiko". Im Herbst soll einer der größten Erfolge des Anbieters, die Serie "Narcos", fortgesetzt werden - Schauplatz ist Mexiko.

Aktueller Streit um Netflix-Produktion "Roma"

An einem mexikanischen Film entzündet sich aber gerade auch eine Debatte, die weitreichende Folgen für den weltweiten Kinomarkt haben könnte. Vor kurzem gewann der mexikanische Film "Roma" von Alfonso Cuarón den Goldenen Löwen in Venedig. Der auf dem Lido auf großer Leinwand gezeigte Siegerfilm ist eine Netflix-Produktion.

Im Gegensatz zu Cannes hatte sich Venedig entschlossen, Produktionen von Streaming-Plattformen für den Wettbewerb zuzulassen. Nun will Netflix "Roma" nach einigen Festival-Einsätzen demnächst auf der eigenen Plattform ausstrahlen. Höchstens ein kurzer Kinoeinsatz im Vorfeld des Netflix-Streamings in ausgewählten Filmtheatern ist im Gespräch. Das erzürnt Deutschlands Kinobetreiber. Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino, im DW-Gespräch zu den Hintergründen des Streits.

Alfonso Cuarón bei den Dreharbeiten zu "Roma"Bild: Netflix

Deutsche Welle: Boykottieren Sie demnächst Netflix-Produktionen, wenn diese ins Kino kommen?

Christian Bräuer: Das Wort Boykott würde ich so nicht verwenden, aber Fakt ist: Netflix legt bisher kein Kino-Auswertungsmodell vor. Die Frage ist also gar nicht, ob wir das boykottieren. Netflix hat versucht, den Venedig-Gewinner "Roma" Kinos anzubieten, aber nur einzelnen Häusern. Und auch nicht so, wie es regulär passiert: mit einer exklusiven Erstauswertung. Netflix hat maximal nur eine Woche geboten. Üblich sind vier Monate. Die Kinos hätten auch keine Zahlen veröffentlichen dürfen, was bei uns üblich ist, als Zeichen von Transparenz. Das sind keine Konditionen, unter denen Kinos wirtschaftlich arbeiten können. Und deshalb werden sie die Filme auch nicht einsetzen.

Sehen Sie ein bewährtes System bedroht? Also Filme zunächst im Kino auszuwerten, dann auf DVD und per Stream anzubieten, dann die TV-Ausstrahlung - und das jeweils mit einem bestimmten zeitlichen Abstand?

Genau. Netflix betritt das "Erst-Fenster", das Fenster der Kinos. Warum kauft Netflix Filme exklusiv ein? Um einen Vorteil zu haben. Kinos brauchen diese Exklusivität auch. Kinos sind teure Orte, im Unterhalt der Gebäude, der Programmgestaltung. Ich erwarte ja auch von den großen US-Studios und von deutschen Produzenten, dass sie vier Monate warten. Damit greift Netflix das Geschäftsmodell an. Das wird dann gerne unter dem Deckmantel der Disruption verkauft: Alles verändert sich… Tatsächlich aber geht es um knallharte Durchsetzung des eigenen Geschäftsmodells zulasten und Zerstörung anderer.

Dr. Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzener der AG KinoBild: AG Kino

…dabei könnte Netflix auch profitieren.

Wenn wir uns darauf einlassen, würde das das Kinomodell plattwalzen, aber auch alle anderen. Auch Filmverleiher sind besorgt, besorgt müssen auch Produzenten sein. Wer es nicht schafft bei den großen Plattformen dabei zu sein, der würde ganz einfach nicht mehr existieren. Wenn Netflix Filme hat, die für das Kino geeignet sind, würden wir uns doch sogar freuen, wenn es eine echte Kinoauswertung gibt. Das wäre doch eine win-win-Situationen. Netflix würde, wie andere Kinoproduzenten auch, Anteile am Einspiel haben, sie würden verdienen.

Rasen da gerade zwei Züge aufeinander? Man kann sich ja kaum vorstellen, dass Netflix jetzt sagt, wir setzen uns mal an einen Tisch. Interessiert Netflix sich überhaupt für europäische Arthouse-Kinobetreiber?

Bei der gerade zu Ende gegangenen "Filmkunstmesse in Leipzig" (eine Plattform, bei der Kinobetreiber aus der ganzen Republik zusammenkommen, Anm. d. Red.) war die Aussage: Der "Goliath" Netflix ist zu groß, um ihn zu ignorieren - aber "David" Arthouse ist auch nicht zu stoppen. Wir haben sehr viele andere Filme. Es ist ja nicht so, dass es nur die Filme auf dem Markt gibt, die Netflix produziert. Wir hatten in Europa über 2000 Filme im letzten Jahr. Unsere Aufgabe ist es, als "Trüffelschweine" die besten Filme zu finden und ins Kino zu bringen. Es gibt da durchaus eine ganz selbstbewusste Haltung. Wir müssen jetzt auch nicht zu viel über Netflix reden. Lasst uns über die Filme reden, die wir ins Kino bringen und lasst uns für diese beim Publikum werben.

Ist es nicht auch so, dass alle gebannt auf Netflix blicken und gar nicht mehr genau hinschauen, was da überhaupt kommt?

Wenn Netflix mit "Roma" in Venedig gewinnt und viele Zeitungen dann nicht schreiben, wie der Film heißt, sondern nur im Stile von "Netflix gewinnt" berichten, dann ist das natürlich eine Herausforderung. Wenn das Filmfest Hamburg (27.9.-6.10.) schreibt: Toll, wir haben drei Netflix-Produktionen und gar nicht sagt, welche Filme das sind, dann müssen die unabhängige Filmwirtschaft in Europa, Produzenten, Verleiher, Kinobesitzer, etwas dazu sagen.

Filme und Serien für den Hausgebrauch auf kleinem SchirmBild: picture alliance/AP Photo/E.Amendola

Dabei handelt es sich ja bei "Roma", der jetzt den Streit auslöst, um einen Kinofilm im besten Sinne...

Die Frage ist ja immer: Was ist Kino? Natürlich ist "Roma" ein Film, der auf die große Leinwand gehört. Ich wage aber zu behaupten, dass der Film auf dem kleinen Bildschirm enttäuscht. Ich wage auch zu behaupten, dass niemand in Deutschland wegen "Roma" Netflix abonnieren wird. Aber: Für Netflix ist der Goldene Löwe ein gigantischer Marketing-Erfolg, der sich ausgezahlt hat.

Netflix ist willkommen als echter Marktteilnehmer, da muss er sich aber auch an Spielregeln halten. Oder Netflix findet eben auf der großen Leinwand nicht statt. Dann ist ein Netflix-Film auch kein Kinofilm mehr. In dem Moment, wo er in Venedig verschwunden ist, ist es ein Fernsehfilm, weil er nur noch auf dem kleinen Schirm zu sehen ist.

Im Kern geht es ja auch um die Festivalpräsenz von Netflix. Cannes zeigt keine Netflix-Filme, Venedig hingegen schon. Wie soll sich die Berlinale positionieren? Sie wollen an Dieter Kosslick und Nachfolger und an Monika Grütters appellieren, sich nicht dem Weg von Venedig anzuschließen.

Genau, das ist ein ganz starker Appell. Die Berlinale ist ein steuerlich finanziertes Filmfestival und kein privates! Wir produzieren in Deutschland und Europa und in der ganzen Welt so viele Kinofilme. Ein solches Festival, zumindest der Wettbewerb, das ist eine Konkurrenz für die besten Filme, die danach frei zugänglich sein sollten. Es ist ja kein Problem, wenn Netflix-Filme in einer Nebenreihe oder auf dem Film-Markt laufen.

Erlebnisort Kino - durch Anbieter wie Netflix bedroht?Bild: picture-alliance/Keystone/J. Zick

Es geht ja auch um die Freiheit der Vertriebswege. Sie können sich den Film im Kino anschauen oder später eine Blu-ray erwerben oder auf einer Streaming-Plattform oder im Fernsehen - das alles wird ja verweigert. Deswegen muss man das verteidigen. Wenn die Netflixe dieser Welt mehr wollen, dann sollen sie sich ihre eigenen Festivals schaffen.

Sind Festivals oder der Ort "Kino" dadurch bedroht?

Die Sorge ist natürlich, wenn in Zukunft ein Berlinale-Wettbewerb mit fünf Filmen von Netflix antritt, die danach nur noch auf dem kleinen Schirm zu sehen sind, würde das auch die "Marke Berlinale" und die "Marke Festival" überhaupt verwässern.

Kurzfristig hört sich das an wie: "Wir wagen was Neues". Die Frage ist aber doch: Sehe ich mich als Teil einer Film-Kultur, die auch Filme für breite Publikumsschichten zugänglich machen will, wo das Kino ein Ort des gemeinsamen Geschichten-Schauens ist? Wir alle lieben Geschichten, egal ob wir die sehen oder hören, egal ob gestreamt oder im Fernsehen - aber das gemeinsame Geschichten-Sehen, für dieses Erlebnis stehen die Filmtheater, mit Freunden, mit Fremden - das ist Kino!

Dr. Christian Bräuer ist Vorstandsvorsitzender der AG Kino, Mitglied im Präsidium der Filmförderung, Vize-Präsident des europäischen Arthouse-Kinoverbandes und betreibt Kinos in Berlin und Dresden. In der AG Kino sind über 300 Filmkunst- und Programmkinos in ganz Deutschland zusammengeschlossen. Sie vertritt die Interessen der Filmkunsttheater nach Außen gegenüber Konzernen, Behörden, Verbänden und auf politischer Ebene. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen