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Hunger, Kälte, Angst: Ein Kriegstagebuch von 1944/45

14. März 2022

Während der NS-Besatzungszeit in den Niederlanden führte ein 19-Jähriger Tagebuch über seinen harten Alltag. Ein beeindruckendes Zeugnis, aus dem man nur eine Lehre ziehen kann: Nie wieder Krieg!

Mehrere Militärtransporter der Wehrmacht rollen auf den Straßen von Amsterdam (1940)
Nazi-Truppen Truppen in Amsterdam (1940): Es folgten fünf Jahre deutsche BesatzungBild: Three Lions/Hulton Archive/Getty Images

Montag, 20. November 1944: "Heute kaum etwas Besonderes", schreibt Jan Bazuin in seinem Tagebuch. Hunger, Kälte, Fliegeralarm scheinen für den 19-Jährigen im fünften Jahr des Zweiten Weltkriegs nichts Besonderes zu sein - Alltag eben. Die Einträge sind kurz und knapp, oft notiert er nur drei bis vier Sätze am Tag. "Jan Bazuin bleibt dabei ruhig und betrachtet die Geschehnisse nüchtern. Er sagt sich: 'Ich muss überleben und ich muss daran denken, dass es gut ausgehen wird. Ich darf den Kopf nicht hängen lassen'", fasst die Historikerin Barbara Beuys die Schilderungen von Bazuin zusammen.

Beuys forscht zu der NS-Besatzung in den Niederlanden während des Zweiten Weltkriegs. 2012 erschien ihr Sachbuch "Leben mit dem Feind - Amsterdam unter deutscher Besatzung Mai 1940 bis Mai 1945". Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit Bazuins Kriegs-Tagebüchern. Die drei Hefte wurden gerade im deutschen C.H. Beck Verlag unter dem Titel "Jan Bazuin - Tagebuch eines Zwangsarbeiters" veröffentlicht.

"Die Einstellung des jungen Jan Bazuin spiegelt die Einstellung der niederländischen Gesellschaft wider", meint Beuys. "Auch in anderen Tagebüchern aus der Zeit liest man Ähnliches, dass es ganz fürchterlich sei, von den Deutschen überfallen worden zu sein, dass man aber versuchen müsse, pragmatisch und realistisch damit umzugehen", so Barbara Beuys, die im Zuge ihrer Recherchen zahlreiche Erlebnisberichte gelesen hat.

Irgendwie überleben 

Am 10. Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Rotterdam, Jan Bazuins Heimatstadt, wird massiv bombardiert, das ganze Land besetzt. Vier Jahre harrt er in der Stadt aus - auf der ständigen Suche nach Essen und Holz zum Heizen.

Tagebuchschreiber Bazuin (Illustration: Barbara Yelin)Bild: Verlag C.H.Beck

"Dieser Tage bin ich auf Kartoffelsuche gewesen. Ich werde sie nicht ausführlich beschreiben, denn ich hab schon mehr als genug davon. Es waren Tage voller Hunger, Kälte und Elend. Es gab keine Kartoffeln zu kaufen", schreibt Jan Bazuin im Winter 1944.

Die Anspannungen innerhalb der Familie wachsen, Vater und Sohn kommen nicht miteinander aus. Bazuin senior droht, Jan von den Deutschen abholen zu lassen, wenn er nicht auszieht. Schließlich wird der junge Niederländer, der einer ersten Razzia entgangen war, für den Arbeitseinsatz in Deutschland zwangsverpflichtet. Es folgen 75 Stunden eingepfercht in einem Güterwaggon - ohne etwas zu essen oder zu trinken.

"Was für eine Nacht war das. Eine, die man nie vergisst. Kälte und Wind, Krankheiten und Gefluche, nein, das ist wirklich das Allerletzte. Genau gezählt sitzen 53 Mann in unserem Waggon. In der letzten Nacht hatte einer von ihnen einen Nervenzusammenbruch. Drei liefen regelmäßig zur Tür wegen Dysenterie (Durchfall). Zwei Jungs von gerade mal 16 Jahren haben die ganze Nacht geweint", so beschreibt Jan Bazuin die Höllenfahrt von Rotterdam nach Bayern. Und weiter: "Wenn einer niemals zuvor Angst hatte, dann lernt er in Deutschland das Fürchten."

Drei Hefte füllt Bazuin mit Einträgen über seinen Überlebenskampf in Rotterdam und seine Deportation ins Durchgangslager Dachau-Rothschwaige, wo er als Küchengehilfe eingesetzt wird. Nach seinem Tod entdeckt sein Sohn, Leon Bazuin, die Tagebücher und bietet sie dem C.H. Beck Verlag zur Veröffentlichung an. 

Die Gedanken des Vaters verstehen

Erst knapp 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Tod seines Vaters im Jahr 2001 und seiner Mutter im Jahr 2009 entscheidet sich Leon Bazuin, die Tagebücher zu lesen: "Meine Eltern haben nie über die Kriegsjahre gesprochen, mein Vater konnte das gut wegstecken. Er heiratete, hatte ein Kind, er war ein sehr kreativer und positiver Mensch, es lief alles zum Besseren", erzählt Leon Bazuin der DW. Für ihn selbst sei der Krieg ein Mysterium gewesen. "Ich war jung und habe mich wenig dafür interessiert, bis zum Moment, wo ich das Tagebuch meines Vaters in den Händen hatte."

Bild: Verlag C.H.Beck

Die Schrift sei nicht leicht zu entziffern, es habe ihn viel Zeit gekostet, die Hefte durchzulesen, sagt er. Dass die Erzählungen seines Vaters in Deutschland auf ein solch großes Interesse stoßen würden, hätte Leon Bazuin nicht gedacht. Das habe ihn überrascht und überwältigt. In den Niederlanden hingegen ist das Interesse etwas überschaubarer.

"Nach 1945 hat man in den Ländern Europas überhaupt nicht über das, was passiert ist, nämlich den Mord an den Juden, gesprochen", sagt Barbara Beuys. Auch in den Niederlanden sei das bis weit in die 1960/70er-Jahre kein Thema gewesen, obwohl dort ein ganz besonders großer Anteil, nämlich 75 Prozent, der jüdischen Bevölkerung deportiert und ermordet worden sei. In Belgien waren es 44 und in Frankreich 25 Prozent. "Aber man ist in den Niederlanden inzwischen aufgewacht. Vergangenes Jahr hat man in Amsterdam ein ganz großes Monument errichtet mit den Namen aller Opfer, die es gegeben hat. Es hat sich etwas getan", sagt Barbara Beuys.

Auch Leon Bazuin sieht in der Diskussion in den Niederlanden einen Fortschritt: Nach der großen Anfrage in Deutschland hätten sich auch niederländische Verlage für die Tagebüchern seines Vaters interessiert. Diese in seiner Heimat zu verlegen, würde ihn glücklich machen, und seinen Vater hätte es wahrscheinlich gefreut, meint er: "Ich denke, es würde ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Das, was mein Vater aufgeschrieben hat, war ein Zeugnis, von dem die kommenden Generationen hoffentlich für die Zukunft lernen werden", so Bazuin weiter.

"Es ist wichtig, dass man, auch wenn die Dinge sehr schlecht laufen und man sich in einer schlechten Situation befindet, versucht zu überleben und das Beste daraus zu machen - und in Situationen zu helfen, wenn es einem möglich ist, dies zu tun." 

Für die nachkommenden Generationen

Das Tagebuch des jungen Jan Bazuin könnte dazu beitragen, vor allem die sogenannte Generation Z, Jugendliche die heute zwischen 16 und 25 Jahren als sind, für das Thema zu interessieren. Dafür wurde eigens ein "Serious Game" mit dem Titel "Forced Abroad" auf der Grundlage des Tagebuchs entwickelt, das der jungen Generation einen anderen, ihr medial vertrauten Zugang zu dieser Thematik ermöglicht.

Historikerin Barbara Beuys sieht in dieser Herangehensweise eine gute Chance, auch junge Leute zu erreichen. Sie plädiert dabei allerdings für mehr Einordnung und Erläuterungen bei der Publikation solcher Tagebücher. So etwa das Thema Zwangsarbeit in der NS-Zeit: "Als Jan Bazuin die Niederlanden verlassen hat, war die Zwangsarbeit im Deutschen Reich schon fast zu Ende", erläutert Beuys.

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"Das, was er als Zwangsarbeiterleben beschreibt, ist im Vergleich zu dem, was andere in den Jahren davor erleben mussten, nicht mehr so schrecklich." Bazuin musste nicht in Fabriken arbeiten und wurde auch nicht gefoltert. "Da müsste man im Buch ein bisschen mehr hinzufügen und einordnen und den Themenkomplex Zwangsarbeit ausführlich erläutern."

An vielen Stellen würde der Leser allein gelassen, so Beuys, wie etwa in der Szene, in der Jan Bazuin ein Kino besucht: "Er schreibt begeistert über den Film 'Opfergang'. Im Glossar wird nur erläutert, dass dieser Film von Veit Harlan ist", sagt Beuys. Dazu hätte man aber schreiben sollen, dass Veit Harlan auch den schrecklichsten antisemitischen NS-Propagandafilm gedreht hatte. "Das war nämlich der Film 'Jud Süß', in dem Juden als sexuell und moralisch absolut verkommen dargestellt werden. Und solche Hinweise muss man eigentlich der jungen Generation geben."

Vieles ist bereits im Glossar und dem ausführlichen Nachwort erläutert. Die junge Generation, die einer aktuellen Studie der Arolsen Archives zufolge großes Interesse und Gesprächsbedarf für das Thema Holocaust und NS-Zeit signalisiert, soll hier mit einer persönlichen Geschichte, erzählt in einem visuellen Format mit interaktiver Unterstützung, abgeholt werden. Es ist ein Beispiel, wie dieses Thema auch künftigen Generationen nahe gebracht werden kann.

Bazuins Tagebuch ist ein wertvolles Zeugnis aus dem Zweiten Weltkrieg, das von Leid und Zerstörung, aber auch dem Mut der Menschen handelt. Und anschaulich deutlich macht, warum jeder Krieg ein Krieg zu viel ist.

Das Buch "Jan Bazuin - Tagebuch eines Zwangsarbeiters" mit Illustrationen von Barbara Yelin ist im C.H. Beck Verlag erschienen.

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