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PolitikEuropa

Kriegsverbrecher sind keine Helden

11. Juli 2020

25 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica beklagt der ehemalige UN-Chefankläger Serge Brammertz die Verehrung von Kriegsverbrechern auf dem Balkan, den Mangel an Versöhnung - und spricht von der Not der Angehörigen.

Serge Brammertz
Der frühere UN-Chefankläger Serge Brammertz sieht keine Zeichen der VersöhnungBild: UN IRMCT/Leslie Hondebrink-Hermer

Der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens in den 1990er Jahren fand vor einem Vierteljahrhundert seinen brutalen Tiefpunkt: Bei dem Überfall bosnisch-serbischer Truppen auf die bosnisch-muslimische Enklave Srebrenica und der anschließenden Ermordung von rund 8000 Männern und Jungen - trotz der Anwesenheit niederländischer Blauhelmsoldaten. Dieses schwerste Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wurde vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, juristisch aufgearbeitet. Maßgeblichen Anteil daran hatte Serge Brammertz. Der belgische Jurist war zehn Jahre Chefankläger des ICTY in Den Haag.

Deutsche Welle: Seit dem Massaker von Srebrenica sind 25 Jahre vergangen: Sehen Sie Anzeichen für Versöhnung?

Serge Brammertz: Versöhnung ist ein komplexes und heikles Thema. Meiner Meinung nach sind wir heute weiter von einer Versöhnung entfernt als noch vor einigen Jahren. Das liegt vor allem an der wachsenden Verehrung von Kriegsverbrechern und der Leugnung der Verbrechen. Beides spielt heute eine viel stärkere Rolle und wird sehr viel mehr toleriert als noch vor fünf Jahren.

Und wenn wir die Geschichtsbücher in den verschiedenen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens anschauen, sogar die Geschichtsbücher innerhalb Bosnien-Herzegowinas: Die erzählen grundverschiedene Geschichten über den Konflikt. Wie kann man da auf Versöhnung hoffen? Eine Bedingung für Versöhnung ist ja gerade dasselbe Verständnis von Geschichte - und dasselbe Verständnis über Verantwortung.

Trauer um die Opfer des Völkermords (Archivbild)Bild: Reuters/A. Bronic

Dabei hat doch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien knapp 5000 Zeugen aufgeboten und an mehr als 10.000 Verhandlungstagen eine Fülle an Beweismaterial zusammengetragen. Es war der größte Prozess seit den Nürnberger Prozessen….

Manchmal werde ich mit dem Vorwurf konfrontiert, mit den 161 Anklagen und mehr als 90 Verurteilungen nicht nur nicht zur Versöhnung beigetragen zu haben, sondern Versöhnung erschwert zu haben - weil bei jedem Urteil in Den Haag die eine Gruppe zufrieden ist und die andere unzufrieden. Darauf antworte ich: Gerechtigkeit allein kann niemals zur Versöhnung führen. Versöhnung muss aus dem Inneren der Gesellschaft kommen, von den Opfergruppen, den Tätergruppen. Um das möglich zu machen, braucht man verantwortungsbewusste Politiker.

Aber heute tun viele Politiker das Gegenteil, sie fördern Hass und Verleugnung. Ende Juni erst hat in Srebrenica jemand Plakate von (dem verurteilten Kriegsverbrecher und bosnisch-serbischen General, Red.) Ratko Mladic aufgehängt und ihm für die "Befreiung von Srebrenica" gedankt. Wir haben im Gerichtssaal Videos gezeigt, in denen bosnisch-serbische Soldaten Gefangene hinrichten. Dennoch wird die Mehrheit der verurteilten Kriegsverbrecher von ihren eigenen Gemeinschaften als Helden angesehen.

Bosnien: Die offene Wunde

05:48

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"An diesen Menschen ist nichts Heldenhaftes"

Ich versuche immer zu erklären: An den Menschen, die in Den Haag strafrechtlich verfolgt wurden, ist nichts Heldenhaftes. Sie sind nicht verfolgt worden, weil sie ihr eigenes Volk verteidigt haben. Sie werden verfolgt, weil sie gegen die Genfer Konvention verstoßen haben, weil sie Gefangene hingerichtet haben, weil sie Privathäuser zerstört haben, weil sie massive sexuelle Gewalt toleriert oder sogar gefördert haben.

Jeder, der in Den Haag verurteilt wurde, ist das genaue Gegenteil von einem Helden. Aber leider wird das in den verschiedenen Gemeinschaften nicht so verstanden. Die Entwicklungen gehen komplett in die falsche Richtung.

Wenn Versöhnung nicht zu den Ergebnissen des ICTY zählt: Was ist Ihrer Meinung nach die größte Errungenschaft von knapp 25 Jahren juristischer Aufarbeitung, in denen Sie zehn Jahre lang Chefankläger waren?

Aus meiner Amtszeit seit 2008 sind die größten Errungenschaften definitiv die Verhaftungen und Verurteilungen von Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Als ich 2008 das Amt übernahm, war geplant, das Tribunal um 2010 zu schließen. Viele waren besorgt, das Tribunal könnte schließen, ohne diese beiden Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Das wäre eine Katastrophe gewesen. Denn von meinen Treffen mit Überlebenden und mit Müttern von Srebrenica wusste ich, dass die Verfolgung von Karadzic und Mladic ihr Hauptanliegen war.

In Den Haag zu lebenslanger Haft verurteilt: Serben-General Ratko Mladic und Serbenführer Radovan KaradzicBild: picture-alliance/ dpa

Umfangreiche Dokumentation der Verbrechen

Eine zweite Errungenschaft ist: Mit diesen Tausenden von Zeugenaussagen, diesen vielen Berichten - Expertenberichten, ballistischen Berichten, forensischen Berichten - haben wir eine umfassende Dokumentation über die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien. Ohne diese Informationen hätten wir heute wenig in der Hand, um der Verherrlichung von Kriegsverbrechern entgegenzutreten.

Drittens unterstützen wir mit diesem Material die nationalen Gerichtsbarkeiten bei der Aufarbeitung der Verbrechen. Allein in Bosnien, in Sarajewo, sind noch 3000 Untersuchungen anhängig. Wir unterstützen diese Ermittlungen. Jedes Jahr leiten wir 10.000 Seiten Beweismaterial an Staatsanwälte im ehemaligen Jugoslawien weiter, damit die dort ihre Strafverfolgung fortsetzen können.

Das Tribunal wurde bereits 1993 eingerichtet, zwei Jahre vor den Gräueltaten in Srebrenica. Die Angst vor Strafverfolgung hat die Täter offensichtlich nicht abzuschrecken vermocht?

Die Einrichtung des Tribunals hatte nicht die abschreckende Wirkung, wie man sie gewünscht hat. Das sehen wir aber auch auf nationaler Ebene beim organisierten Verbrechen, wir sehen es beim Terrorismus: Die Androhung von Strafverfolgung kann diese Verbrechen nicht verhindern.

Ein Wort zu den Ermittlungen: Als im Juli 1995 der Völkermord in Srebrenica geschah, hatte das Tribunal zwar gerade seine Arbeit aufgenommen. Aber aus Sicherheitsgründen konnten keine Untersuchungen vor Ort durchgeführt werden. Die ersten Ermittler des Tribunals konnten erst ein Jahr später die Tatorte, die Massengräber aufsuchen.

US-amerikanische Luftbilder vom August 1995 zeigen mögliche MassengräberBild: picture-alliance/dpa

Kurz nach dem Massaker hatte US-Außenministerin Madeleine Albright im Weltsicherheitsrat bereits Satellitenbilder gezeigt von Orten, an denen sich Massengräber befinden würden. Die Informationen, die meinen Kollegen zur Verfügung standen, lauteten demnach: Fast 8000 Männer und Jungen waren verschwunden. Niemand wusste, wo sie waren. Es gab acht Zeugen, die diese Erschießungen überlebt hatten und den ganzen Tag in einem Massengrab verbracht hatten, von vielen anderen Leichen bedeckt, die nachts fliehen und als Zeugen aussagen konnten.

Verschleierung des Grauens

Als ein Jahr später die erste Untersuchung begann, wurden dank dieser Zeugenaussagen und dank der Satellitenbilder die Massengräber gefunden. Aber es waren nur einige hundert Leichen darin. Der Grund: In dem Jahr, in dem kein Ermittler vor Ort recherchieren konnte, wurden diese Tausenden von Leichen von einer Handvoll großer Massengräber auf Dutzende weiterer Gräber verteilt, um das Verbrechen zu verbergen. Eine der Herausforderungen der Untersuchung bestand darin, diese Gräber miteinander in Verbindung zu bringen.

Grausige Spurensuche: Forensiker untersuchen ein Massengrab bei SrebrenicaBild: picture-alliance/dpa/F. Demir

Man hatte sehr schwere Maschinen benutzt, um die Leichen zu transportieren. Wir haben also Bodenproben analysiert, Geschosse analysiert und tatsächlich festgestellt, dass die Leichen im Hauptgrab mit derselben Waffe erschossen wurden wie die in den Sekundärgräbern. Der wirklich makabre Teil: Wir haben mehr als 1000 DNA-Analysen, bei denen Körperteile, die wir in den Sekundärgräbern gefunden haben, mit Leichenteilen in den Primärgräbern in Verbindung bringen können. Das bedeutet: Viele Leichen wurden auseinandergerissen. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Körperteile desselben Individuums an verschiedenen Orten gefunden.

Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für eine Familie bedeutet, wenn Sie nicht nur einmal einen Anruf erhalten, dass Ihr Sohn oder Ihr Ehemann gefunden wurde, sondern mehrere Male. Und dann sprechen wir nur über Körperteile.

Ich stelle mir das sehr aufwühlend vor. Was war denn der emotionalste Moment in all ihren Jahren als Chefankläger?

Das war mein erster Besuch in Srebrenica im Jahr 2010. Ich kannte natürlich schon alle unsere Akten und hatte mich auch schon einige Male mit den Müttern von Srebrenica getroffen. Aber dann verbrachte ich einen Tag dort, arbeitete mit den Überlebenden, besuchte die Grabstätten, besuchte einige der Orte, an denen die Massenhinrichtungen stattgefunden hatten.

Immerwährender Schmerz

Ich verbrachte Stunden und Stunden mit einzelnen Überlebenden, wo sie mir die letzten Bilder ihrer Lieben zeigten, mir ihre Geschichten erzählten. So viele Jahre waren vergangen, aber der Schmerz war immer noch so präsent. Dies war der bewegendste Moment meiner beruflichen Laufbahn.

Für die Angehörigen ist der 11. Juli 1995 nie zu Ende gegangenBild: Getty Images/AFP/D. Dilkoff

Der Genozid liegt 25 Jahre zurück; für viele ist er Geschichte. Aber nicht nur für die Opfer, auch für die Überlebenden endete ihr Leben mit dem Völkermord. Seitdem steht er jeden Tag im Mittelpunkt ihres Lebens.

Noch einmal zur Kritik am Tribunal: Ihm wird immer wieder vorgeworfen, einseitig vor allem serbische Straftäter zu verfolgen.

Wie auch alle anderen internationalen Tribunale ist auch dieses Tribunal nicht perfekt. Und natürlich gibt es im Rückblick Untersuchungen, bei denen sie glauben, sie hätten es besser machen können. Wenn sie einen Freispruch erhalten, bedeutet das: Ihr Fall war nicht stark genug.

Die Realität ist: Die Mehrheit der verfolgten und verurteilten Personen gehören der serbischen Gruppe an, sind hauptsächlich Serben aus Bosnien-Herzegowina. Aber es wurden auch Personen - allerdings deutlich weniger - aus Kroatien verurteilt und von den bosnischen Muslimen.

Und wir machen immer sehr, sehr deutlich, dass von allen Seiten zu verschiedenen Zeitpunkten des Konflikts Verbrechen begangen wurden.

Das Interview führte Matthias von Hein.

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