Krise in Frankreich: Ideal für Russland?
19. September 2025
Die Demonstration glich, wie oft in Frankreich, einer Straßenparty. Große Ballons ragten von den Gewerkschaftswagen in die Höhe. Aus den Boxen auf den Fahrzeugen dröhnte laute Musik. Entlang der Marschstrecke durch den Pariser Osten verkauften zahlreiche Händler Würstchen und Getränke. 55.000 Menschen nahmen laut Behörden an den Protesten in Paris teil, in ganz Frankreich waren es 500.000. Die Gewerkschaften sprachen von einer Million Demonstrierenden im Land. Doch der joviale Protest drückte eine steigende Wut der Franzosen auf ihre Politiker aus - vor allem auf Präsident Emmanuel Macron. Von dem haben laut Umfragen nur noch 17 Prozent der Franzosen eine positive Meinung, ein Rekordtief. Dass der Druck auf ihn wächst, hat Auswirkungen auf internationaler Ebene.
Wütend über die politische Lage war auch Carine Torset, die am Donnerstagnachmittag mit rund 50 Kollegen, die in der Videospielbranche arbeiten, durch Paris marschierte. "Es ist das erste Mal, dass wir mit einer Gruppe bei einer Demonstration dabei sind", sagt die 33-Jährige, die Mitglied der Gewerkschaft CGT ist, der DW. Sie spricht von einem "Schock" und einer gewissen Resigniertheit, die sie empfand, als der nun ehemalige Premierminister François Bayrou Mitte Juli bekanntgab, wie er nächstes Jahr etwa 44 Milliarden Euro einsparen und Frankreichs Haushaltsloch auf 4,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) senken wolle.
Die Ankündigungen brachten Frankreichs Gewerkschaften dazu, den Protesttag im September anzusetzen. Vor allem, weil Bayrou zwei Feiertage streichen, Kürzungen im Gesundheitssektor und eine Reform der Arbeitslosenversicherung durchsetzen wollte.
Dass der Premier inzwischen an einem Vertrauensvotum im Parlament gescheitert ist und Präsident Macron ihn durch seinen Vertrauten Sébastien Lecornu, bisher Frankreichs Verteidigungsminister, ersetzt hat, ändert für Torset wenig. "Lecornu ist noch schlimmer als Bayrou und wird bestimmt noch härtere Sparmaßnahmen umsetzen wollen", unterstreicht sie. "Wir brauchen endlich einen linksgerichteten Premierminister, der etwas für Niedrigverdiener tut und Reiche besteuert."
Frankreichs Chaos hat Auswirkungen auf EU-Ebene
Lecornu hat zwar die Streichung von Feiertagen inzwischen gekippt, aber seinen Haushaltsentwurf noch nicht bekanntgegeben - Anfang Oktober muss er ihn im Parlament einreichen. Der Premierminister verhandelt über die Pläne zurzeit mit den Fraktionen im Parlament, wo er keine Mehrheit hat, sondern sich auf eine wackelige Minderheitsregierung der Mitte und konservativen Rechten stützt. Die alten Minister funktionieren dabei als Übergangsregierung.
Das wirke sich auf den sogenannten deutsch-französischen Motor aus, der in der Europäischen Union (EU) als wegweisend gilt, so Paul Maurice, Generalsekretär des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen Cerfa an der Pariser Denkschmiede Ifri. "Die Arbeit auf den zahlreichen Verwaltungsebenen in bilateralen Komitees läuft weiter, aber laut einer Regelung aus dem Jahr 2024 treffen Übergangsminister in Frankreich nur Entscheidungen, wenn diese zwingend nötig sind - zum Beispiel in einer Finanzkrise", erklärt der Experte im Gespräch mit der DW. "Außerdem braucht man Geld, um Projekte voranzutreiben, zum Beispiel Investitionen in die Verteidigung, was ja eine der Prioritäten auf europäischer Ebene ist."
Das innenpolitische Chaos mache sich auch auf gesamteuropäischer Ebene bemerkbar, fügt Sophie Pornschlegel hinzu. Sie ist Policy Fellow an der linksliberalen Berliner Denkfabrik Progressives Zentrum. "Macron ist intern so beschäftigt, dass er weniger Zeit hat, sich auf Außenpolitik und Europa zu konzentrieren. Zudem erschweren und verlangsamen die ständigen Ministerwechsel die Arbeit in den europäischen Ministerräten, die zum Beispiel für die Agrarpolitik zuständig sind", so Pornschlegel.
"Es hat zudem eine Signalwirkung, auch auf die Finanzmärkte, dass Frankreich jetzt schon wieder einen neuen Premier hat, den vierten in zwei Jahren", betont sie gegenüber der DW. Frankreich zahlt inzwischen für die Refinanzierung seiner Staatsschuld so viel wie Italien, dessen Staatsverschuldung bei 130 Prozent des BIPs liegt, rund 20 Prozentpunkte über der Frankreichs. "In der Diplomatie ist es zudem wichtig, Stärke auszustrahlen. Aber gerade überwiegt das Klischeebild von Frankreich im Streik", meint die Expertin.
Grund zur Freude für Russlands Putin?
Dass die aktuelle Situation Frankreichs Standing beeinträchtigt, sieht auch Jean Pisani-Ferry so, Senior Fellow am Brüsseler ökonomischen Forschungsinstitut Bruegel und Wirtschaftsprofessor an der Pariser Universität Sciences Po. "Der Präsident eines Landes in finanziellen Schwierigkeiten ist notgedrungen geschwächt. Die Stimme seines Landes hat weniger Schlagkraft - auch bei Verhandlungen auf europäischer Ebene", meint Pisani-Ferry im Gespräch mit DW. "Man muss das Haushaltsgleichgewicht wiederherstellen. Aber das wird nicht einfach. Es ist wichtig, dass Frankreichs Wirtschaft weiter wächst. 44 Milliarden Euro Einsparungen sind da zu viel. Außerdem sollte man die Maßnahmen gerecht unter Gering- und Vielverdienern aufteilen."
Für Jan Rovny, Politikprofessor am Zentrum für Europäische Studien und Vergleichende Politik an Sciences Po Paris, strahlt Frankreichs Situation dabei aus. "Wenn Frankreich geschwächt ist, ist auch die EU geschwächt. Das freut konkurrierende Regime wie China und Russland", sagt er der DW. "Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist das, was sich gerade in Frankreich abspielt, ideal. Er hofft bestimmt auf noch mehr Streiks, politische Unsicherheit und dadurch Aufwind für die extreme Rechte. Putin wird versuchen, solche Tendenzen durch die Verbreitung von Fake News weiter anzufachen. Schließlich will er europäische Länder destabilisieren und politisches Chaos verbreiten."
Solche Überlegungen lagen vielen Demonstrierenden am Donnerstag fern. Wie Thierry Dubert, der früher als Produktionsleiter in einer Fabrik zur Zerstörung von Munition aus dem Ersten Weltkrieg arbeitete. "Es sollte wieder eine Rente mit 60 geben - und nicht wie bald 64. Heutzutage behandelt man Angestellte nur noch als Ressource, aber wir sind doch Menschen. Ich bin gegen die Rückkehr ins Mittelalter", forderte der 62-jährige Rentner, der dementsprechend im Kettenhemd zur Demonstration gekommen war.