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PolitikAsien

Kasachstan: Moskaus Verbündeter wackelt

Roman Goncharenko
5. Januar 2022

Brennende Polizeiautos, besetzte Verwaltungen, Schüsse - Kasachstan droht im Chaos zu versinken. Dabei galt der zweitwichtigste Verbündete Russlands im postsowjetischem Raum als stabil. Was ist passiert?

Schützenpanzer in Almaty, 5. Januar 2022
Schützenpanzer bei den Protesten in Almaty am 5. Januar 2022Bild: REUTERS

Nichts deutete auf eine tiefe Krise hin, doch dann ging alles sehr schnell. In der westkasachischen Stadt Schangaösen protestierten am vergangenen Sonntag hunderte Menschen gegen Preissteigerungen beim Autogas. Mittlerweile haben sich die Unruhen im ganzen Land ausgebreitet, tausende Demonstranten gingen auf die Straßen. Die Proteste erfassten auch die größte Stadt und ehemalige Hauptstadt Almaty, wo auch ein Präsidentenpalast angezündet wurde.

Es gibt Berichte über gestürmte Verwaltungen, angezündete Polizeiautos, entwaffnete Polizisten, Schüsse und Explosionen. "Terroristische Banden" hätten sich in Almaty einen Kampf mit Fallschirmjägern geliefert, berichtete Präsident Kassym-Jomart Tokajew in einer Fernsehansprache. Zudem teilte der Staatschef mit, er habe das von Russland geführte Militärbündnis OVKS um Hilfe gebeten. Ihm gehören neben Russland fünf weitere Ex-Sowjetrepubliken an. In einigen Regionen Kasachstans wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, doch die Lage bleibt unübersichtlich.

Brennende Polizeiautos in Kasachstans größter StadtBild: Vladimir Tretyakov/AP/dpa/picture alliance

Eins steht bereits fest: Es ist die größte politische Krise in der zentralasiatischen Republik, die bisher den Ruf einer stabilen Autokratie hatte. Die Konsequenzen dürften weit über Kasachstan zu spüren sein, denn es handelt sich um einen der engsten Verbündeten Russlands unter den postsowjetischen Staaten.

Steigende Preise, fehlende Energie

Die Proteste entzündeten sich in dem Ort, in dem es vor genau zehn Jahren bereits Unruhen gab. Schangaösen ist eine Stadt im ölreichen Westen Kasachstans. Bei der Niederschlagung der Unruhen dort starben damals mehr als ein Dutzend Menschen. Der Ruf Kasachstans als eine friedliche und moderate Autokratie bekam Risse.    

Einst waren niedrige Löhne der Auslöser für die Proteste. Diesmal war es die seit Jahresbeginn geltende Verteuerung beim Gas an Tankstellen. Der Preis für den beliebten Kraftstoff wurde zu Jahresbeginn verdoppelt. Die inzwischen zurückgetretene Regierung erklärte das mit gestiegener Nachfrage und nicht ausreichender Produktion.

Auch die ehemalige Hauptstadt Almaty wurde von Protesten erfasst

Doch es kriselte in Kasachstan schon länger, vor allem im Energiesektor. Zum Beispiel produzierte das Land im vergangenen Jahr nicht genug Strom, es kam zu Notabschaltungen. Kasachstan bekam zusätzliche Stromlieferungen aus Russland und plant den Bau seines ersten Atomkraftwerks. Auch die Lebensmittelpreise sind so gestiegen, dass die Regierung im Herbst ein Ausfuhrverbot etwa für Rinder, Kleinvieh, Kartoffeln und Karotten einführen musste.

Ein Land im Machtübergang

Die Krise trifft Kasachstan mitten im politischen Machtübergang. Die einst flächenmäßig zweitgrößte Sowjetrepublik wurde fast drei Jahrzehnte lang vom ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew autoritär regiert. Der frühere kommunistische Republikchef und Parteiführer prägte das Land stark und sorgte auch mit Hilfe westlicher Investoren im Öl- und Gassektor für relativen Wohlstand. Nasarbajew ließ unter anderem die Hauptstadt aus Almaty im Süden an der Grenze zu Kirgisistan weiter nach Norden in die neu gegründete Stadt Astana verlegen, die zu seiner Ehre in Nur-Sultan umbenannt wurde.   

Der heute 81-Jährige war der dienstälteste Herrscher im postsowjetischen Raum, als er im März 2019 seinen Rücktritt ankündigte. Einer der Gründe sei seine angeschlagene Gesundheit gewesen, verriet Nasarbajew in einer Dokumentation, die im Dezember ausgestrahlt wurde. Beobachter gehen davon aus, dass er vor allem Machtkämpfe um sein Erbe vermeiden wollte. 

Die Lage untergrabe "die Integrität des Staates", betonte Kasachstans Präsident TokajewBild: Yevgeny Biyatov/AP Photo/picture alliance

Kassym-Jomart Tokajew wurde neuer Präsident, Nasarbajew behielt bis vor kurzem einige Machtzügel in der Hand. Als "Jelbasy" ("Führer der Nation") blieb der Ex-Präsident Chef des mächtigen Sicherheitsrates und der regierenden Partei Nur-Otan. Erst im November 2021 kündigte Nasarbajew an, auch die Parteiführung an den 68-jährigen Tokajew abgeben zu wollen. Den Posten an der Spitze des Sicherheitsrates übernahm Tokajew vor dem Hintergrund der Proteste am Mittwoch.  

Moskau ruft zum Dialog auf 

Nasarbajews Plan eines schrittweisen Machtübergangs gerät nun unter Druck und wird in anderen früheren Sowjetrepubliken genau beobachtet werden, vor allem in Russland. Kasachstan gilt als der zweitengste Verbündete Moskaus in der eurasischen Region nach Belarus. Nach den oppositionellen Protesten 2020 in Belarus wackelt erneut ein Schüsselland, mit dem Moskau besonders eng wirtschaftlich und politisch zusammenarbeitet.

2011: Die Präsidenten von Kasachstan, Russland und Belarus - Nasarbajew, Medwedew und Lukaschenko (v.r.n.l.) - beschließen die Eurasische WirtschaftsunionBild: Dmitry Astakhov/AFP/Getty Images

Russland, Belarus und Kasachstan waren 2010 Gründungsmitglieder der Zollunion, eines ambitionierten Integrationsprojekts des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Daraus ist 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion entstanden, der auch Armenien und Kirgisistan angehören. Putin und Nasarbajew haben ein sehr vertrautes Verhältnis und trafen sich zuletzt beim Treffen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, dem GUS-Gipfel in St. Petersburg Ende Dezember. 

Bisher reagierte der Kreml zurückhaltend auf die Krise in Kasachstan. Das Außenministerium in Moskau rief zum Dialog auf. Das von Russland geführte Militärbündnis OVKS, das Tokajew in seiner TV-Ansprache um Hilfe bat, will allerdings "Friedenstruppen" nach Kasachstan entsenden, wie der armenische Premierminister Nikol Paschinjan mitteilte. Die Soldaten sollten für einen begrenzten Zeitraum entsandt werden, "um die Lage in dem Land zu stabilisieren und zu normalisieren".

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