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Kritik an europäischen AKW-Stresstests

Michael Gessat16. Juni 2012

Würden europäische Atomkraftwerke einer Naturkatastrophe standhalten? Und was, wenn mehrere "unglückliche" Umstände zusammenkommen? Antwort soll ein AKW-"Stresstest" geben.

TOKYO, Japan - Handout photo shows smoke billowing from the No. 3 reactor of the Fukushima Daiichi Nuclear Power Station in Fukushima Prefecture on March 21, 2011. On front left is the No. 2 reactor and on back right is the No. 4 reactor. Efforts are under way to put the crippled plant under control since the March 11 quake and tsunami. Photo supplied by Tokyo Electric Power Co./Kyodo/MaxPPP
Fukushima Daiichi AtomkraftwerkBild: picture-alliance/dpa

Das Atomkraftwerk im japanischen Fukushima war eigentlich erdbebensicher gebaut. Und eigentlich hatte man bei der Konstruktion auch an die Gefahr durch eine Monsterwelle, einen Tsunami gedacht. Aber das Beben am 11. März 2011 war stärker als je zuvor, und die nachfolgende Welle war höher als die Schutzmauern – das AKW geriet außer Kontrolle.

Atomausstieg in Deutschland

In Deutschland zog Kanzlerin Angela Merkel, selbst promovierte Kernphysikerin, schnell Konsequenzen aus der Katastrophe. Im Juni 2011 beschloss die Bundesregierung, was die politische Opposition seit langem gefordert hatte: den Ausstieg aus der Atomkraft. Acht ältere deutsche Meiler wurden sofort stillgelegt, die restlichen sollen bis zum Jahr 2022 Zug um Zug folgen.

In vielen anderen europäischen Ländern hält man hingegen an der Technologie fest – und eine rein nationale Frage ist Reaktorsicherheit ohnehin nicht: Verstrahlte Luft oder verseuchtes Wasser nach einer eventuellen Kraftwerks-Katastrophe stoppen nicht an Ländergrenzen.

Havarie mit politischen Folgen: Proteste am Fukushima- Jahrestag in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Reaktorsicherheit ist EU-Sache

Auch die EU hat also direkt nach der Fukushima-Havarie reagiert: Ein Stresstest für Europas Atomkraftwerke sollte klären, wie gut die Meiler einem negativen Einfluss von außen standhalten würden – zum Beispiel bei einem Erdbeben oder bei einer Überflutung wie in Japan. Durchgeführt hat den Stresstest die "European Safety Regulators Group" (ENSREG), und zwar in einem dreistufigen Verfahren: Zunächst mussten die Kraftwerksbetreiber selbst auf einen umfassenden Fragenkatalog zur Sicherheit ihrer Anlagen antworten. Danach wurden die Stellungnahmen von den jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden gesammelt und überprüft – und schließlich kontrollierten internationale Expertenteams noch einmal, ob die Angaben plausibel waren; ein sogenanntes "Peer Review".

Kritik von Greenpeace

Großer Aufwand, wenig Aussagekraft – so kritisiert "Greenpeace" den europäischen AKW-Stresstest. Die Umweltorganisation hat ein eigenes Gegengutachten erstellt, das die Schwachpunkte der "offiziellen" Version aufdecken soll. Die Angaben im ENSREG-Bericht seien von sehr unterschiedlicher Qualität, kritisiert Greenpeace-Mitarbeiter und Atomphysiker Heinz Smital: "Manche Sachen werden einfach nur behauptet von Betreibern und von Aufsichtsbehörden, andere Aussagen sind relativ gut belegt, weil sie im Genehmigungsprozess sehr genau untersucht worden sind." Viele Risikofaktoren klammere der Stresstest von vornherein aus, zum Beispiel die Alterungseffekte bei den Meilern, die teilweise seit Jahrzehnten in Betrieb sind.

Handlungsbedarf auch in Deutschland

Eigentlich sollte der EU-Stresstest gerade unter dem Eindruck von Fukushima ausdrücklich klären, ob ein Kraftwerk auch dann noch beherrschbar bleibt, wenn mehrere Probleme gleichzeitig auftreten. Im seit April vorliegenden Bericht lese sich das aber anders, bemängelt Smital: "Man nimmt sich immer ein Kriterium heraus, geht aber davon aus, dass der Rest der Anlage völlig intakt ist und auch völlig genauso funktioniert wie geplant." Das sei aber unrealistisch - nach den Greenpeace-eigenen Beurteilungen steht es um Europas Atomkraftwerke weit schlechter als im Stresstest diagnostiziert: Etwa 50 Anlagen, so das Fazit von Smital, müssten unverzüglich stillgelegt werden. Auch in Deutschland bestehe Handlungsbedarf – in der Anlage Grundremmingen etwa kritisiert Greenpeace die ungeschützten Becken, in denen hochradiaktive Materialien zum Abklingen gelagert werden.

Laut Greenpeace-Gutachten unsicher: Atomkraftwerk Cattenom in FrankreichBild: picture alliance/dpa

Stresstest-Endfassung erst im Herbst

Politische Entscheidungen in der Sache werden allerdings frühestens im Herbst anstehen, denn auch Günter Oettinger, der deutsche EU-Kommissar für Energie, ist mit dem ENSREG-Bericht noch nicht ganz zufrieden. Beim Treffen der zuständigen Minister am Freitag (15.6.2012) in Luxemburg stand das Papier zwar auf der Tagesordnung, aber nur als vorläufiger Zwischenreport. Zwei Dinge will Oettinger in den nächsten Monaten noch ergänzen lassen, erläutert seine Sprecherin, Marlene Holzner: "Die letzte Phase, wo wir multinationale Teams hatten, und die sich AKW in einem anderen Land angeguckt haben; diese Zeit war relativ kurz bemessen." Nicht jedes einzelne Kraftwerk, aber doch wenigstens sämtliche europäische Kraftwerktypen müssten für den endgültigen Bericht begutachtet worden sein, verlangt der EU-Energiekommissar.

Heikles Kapitel Terrorismus

Auch ein zweiter Punkt war Oettinger schon bei der Konzeption des Stresstests wichtig, so seine Sprecherin: "Die Bevölkerung will wissen, ob die AKWs in ihrer Umgebung sicher sind, wenn es einen Terroranschlag gibt wie beim World Trade Center oder wenn es einen Flugzeugabsturz nach einem Unfall gibt." Hier soll der endgültige Bericht die Erkenntnisse zu diesem besonderen Risiko in einem eigenen Kapitel zusammenfassen. Ohnehin ist die Gefährdung von Kernkraftanlagen durch Terroristen ein heikles Thema - viele Staaten möchten ihre Einschätzung und eventuell geplante Abwehrmaßnahmen nicht offenlegen.

Wegen zahlreicher Zwischenfälle schon lange umstritten: AKW Temelin in TschechienBild: PETR DAVID JOSEK/AP/dapd

Entscheidungen bleiben Ländersache

Und auch die Entscheidung über die politische Reaktion auf die Stresstest-Ergebnisse bleibt letztlich Sache der Staats- und Regierungschefs – die EU-Kommission gibt nur eine Empfehlung ab. Die allerdings soll deutlich sein, verspricht Oettingers Sprecherin: wenn ein Kraftwerk den Test nicht bestehe, dann müssten die Betreiber es nachrüsten – oder abschalten. Für die Sicherheit der vorhandenen Meiler sei die EU-Kommission zuständig, nicht aber für ein grundsätzliches "Ja" oder "Nein" zur Atomkraft: "Weil es die Mitgliedsländer und nur die Mitgliedsländer sind, die entscheiden können, ob sie Atomkraft nutzen oder ob sie es nicht tun."

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