1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Kritik an Regelung für afghanische Ortskräfte

27. Juni 2021

Afghanische Ortskräfte, die beispielsweise für die Bundeswehr gearbeitet haben, müssen weiterhin hohe Hürden für eine Aufnahme in Deutschland überwinden. Kenner der Verhältnisse fordern einen Kurswechsel.

Afghanistan Übersetzer Bundeswehr
Ein Dolmetscher der Bundeswehr (2.v.r.) an einem Checkpoint in KundusBild: picture-alliance/dpa

Eine halbe Stunde hatte der Bundestag am vergangenen Mittwochabend diskutiert, dann stand das Ergebnis fest: Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur erleichterten Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die bei der Bundeswehr oder anderen deutschen Organisationen in Afghanistan gearbeitet hatten, ist abgelehnt. Weder soll es ein Gruppenverfahren für großzügige Aufnahme der Ortskräfte geben, noch soll den Familienangehörigen ein Einreisevisum ausgestellt werden. Abgelehnt hatten den Antrag die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und AfD. Die Linksfraktion stimmte mit den Grünen dafür, die FDP enthielt sich.

Somit gilt die Mitte Juni bekanntgegebene Regelung. Diese sieht vor, dass alle Ortskräfte, die von 2013 an für die Bundeswehr und andere deutsche Behörden gearbeitet haben, nach Deutschland kommen können.

Die Rückholung von wertvollem Material aus Afghanistan läuft planmäßigBild: Matthias Rietschel/REUTERS

Das ist eine Verbesserung gegenüber der vorhergehenden Regelung. Ihr zufolge sollten nur diejenigen Afghanen nach Deutschland kommen können, die innerhalb der vergangenen zwei Jahre für die Bundeswehr und andere deutsche Institutionen gearbeitet haben. "Die Zwei-Jahres-Frist ist gefallen", hatte Seehofer nach Beratungen der Innenminister von Bund und Ländern im baden-württembergischen Rust gesagt. Zur Begründung nannte Seehofer neue Erkenntnisse zur Sicherheitslage in Afghanistan.

Schwierige Hürden vor möglicher Aufnahme

Voraussetzung für die Prüfung einer Aufnahme in Deutschland ist allerdings, dass die in Frage kommenden Personen eine sogenannte Gefährdungsanzeige an ihre Vorgesetzten richten. Darin erläutern sie die Gefahren, in die ihre Arbeit als Ortskräfte sie gebracht hat. Allerdings werden die Gefährdungsanzeigen nur dann geprüft, wenn die Betreffenden nicht länger als zwei Jahre aus ihrem Vertrag ausgeschieden sind. Überhaupt nicht berücksichtigt werden Ortskräfte, die für Subunternehmen der Bundeswehr tätig waren, diese sind auf sich selbst angewiesen.

Zudem ist unklar, wo die Betroffenen diese Anträge stellen können. Zwar hatte die Bundesregierung bereits im April entsprechende Büros in Masar-i-Scharif und Kabul in Aussicht gestellt. Die aber gebe es bis heute nicht, erklärte die Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) in ihrer Erklärung zu dem von den Grünen in den Bundestag eingebrachten Antrag.

Bald Vergangenheit: Bundeswehrsoldat vor der Außenmauer von Camp MarmalBild: Michael Fischer/dpa/picture alliance

Sie wies zudem darauf hin, dass die Ortskräfte darauf angewiesen seien, Afghanistan auf eigene Faust zu verlassen. Das geschehe in der Regel über den Weg nach Pakistan, der aber zunehmend unsicher sei. Auch müssen die Ausreisewilligen die Flugbuchungen selbst organisieren und die Flugkosten selbst tragen.

Zwar sind bereits 400 Zusagen für das Aufnahmeprogramm gegeben worden. "Doch auch für diesen begünstigten Personenkreis wird es nahezu unmöglich sein, selbstständig Flugtickets außer Landes zu organisieren, geschweige denn sicher den Flughafen Kabul zu erreichen", heißt es einem Papier von Pro Asyl.

"Gebot politischer Klugheit"

Ortskräfte seien für Auslandseinsätze essentiell, sagt der Grünen-Politiker Winfried Nachtwei,1994-2009 Mitglied des Deutschen Bundestags und dort Mitglied des Verteidigungsausschusses und auch nach seiner Abgeordnetenzeit publizistisch mit Afghanistan befasst. Zusammen mit dem Afghanistan-Experten Thomas Ruttig und anderen veröffentlichte er Mitte Mai einen Offenen Brief, der dafür plädiert, afghanische Ortskräfte nach Deutschland in Sicherheit zu bringen.

Bundeswehrabzug soll Unterstützung nicht beenden: Außenminister Maas bei Präsident Ashraf GhaniBild: FlorianxGaertner/photothek.dex/Imago Images

"In Afghanistan sind einige von ihnen zusammen mit den Bundeswehrsoldaten in Gefechtssituation geraten", so Nachtwei im DW-Gespräch. "Sie haben dort ihr Leben riskiert. Die Soldaten haben sie als verlässliche Kameraden erfahren. Jetzt kommt es darauf an, Verlässlichkeit auch in umgekehrter Richtung, oder in anderen Worten: Fürsorgepflicht, zu demonstrieren."

Zudem sei die Aufnahme der Ortskräfte auch ein Gebot politischer Klugheit. "Auch an ihr wird Deutschlands Verlässlichkeit gemessen. Und die ist ein zentraler Faktor inter- und multinationaler Politik. Wird Deutschland ihr nicht gerecht, wird das Land in anderen Situationen kaum auf Unterstützer rechnen können."

"Ablehnung auch strategisch nicht sinnvoll"

Ähnlich sieht es Marcus Grotian, Erster Vorsitzender des "Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte" und Hauptmann bei der Bundeswehr. "Nehmen wir die gefährdeten Ortskräfte nicht auf, untergraben wir unsere eigene Glaubwürdigkeit". Eine Ablehnung sei auch strategisch nicht sinnvoll, so Grotian im DW-Interview. "Denn in Regionen, deren Sprache wir kaum kennen, sind wir auf Helfer zwingend angewiesen. Nehmen wir diese Leute nun nicht auf, wird sich auch anderswo rumsprechen. Man wird sich dann zweimal überlegen, ob man uns helfen will."

Es gebe zudem zwingende humanitäre Gründe, die Helfer in Deutschland aufzunehmen", ist Grotian überzeugt." Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hört mit Übergabe des Gehaltsschecks nicht auf. Die Arbeit für deutsche Institutionen darf nicht dazu führen, dass man sein Leben aufs Spiel setzt."

Bewaffnete Bürger Kabuls demonstrieren Solidarität mit der Regierung beim Kampf gegen Extremisten der TalibanBild: Str./REUTERS

Dass Deutschland zudem nur Personen aufnehmen will, für die eine Gefährdungsanzeige vorliegt, hält er für kaum nachvollziehbar. "Diese Anzeige müssen die Betroffenen selbst eingereicht haben. Aber solche Gefährdungsanzeige haben in mehreren Fällen dazu geführt, dass das Arbeitsverhältnis dieser Leute noch einmal auf seine rechtlichen Konsequenzen für Deutschland geprüft wurde. In einigen Fällen folgte auf diese Anzeige sogar die Entlassung." In der Folge hätten viele Ortskräfte auf eine entsprechende Anzeige verzichtet. "Dass sie nun zur Bedingung der Aufnahme nach Deutschland gemacht wird, ist mindestens problematisch."

Kirchenbau als Todsünde

Für nicht nachvollziehbar hält Grotian auch den Umstand, dass die Bundesregierung nur diejenigen Personen berücksichtigt, die in einem unmittelbaren Dienstverhältnis mit der Bundeswehr standen. "Im Camp Marmal hatte ein Afghane über Jahre einen kleinen Lebensmittelladen betrieben. Er hatte zwar kein reguläres Dienstverhältnis, galt in den Augen der Afghanen aber dennoch als eine Art Mitarbeiter des Camps."

Bundeswehreinsatz mit Verpflichtungen auch nach seinem Ende Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Grotian berichtet von einer weiteren Person, einem afghanischen Bauunternehmer. "Der hatte auf unseren Wunsch hin eine Kirche in dem Camp gebaut. Das ist in den Augen radikaler Afghanen eine Todsünde. Dieser Mann ist nun bedroht. Auch er muss nach Deutschland kommen dürfen."

Entsprechend plädiert er dafür, die bisher geltenden Richtlinien zu überdenken. "Das entscheidende Kriterium müsste aus meiner Sicht also darin bestehen, wer für Deutschland gearbeitet hat."

Solidarität aus der Bundeswehr

Afghanische Ortskräfte stehen nach derzeitigem Stand vor weiterhin vor erheblichen Problemen, wenn sie nach Deutschland kommen wollen. Ihnen wollen Nachtwei und die anderen Initiatoren des Offenen Briefs auch publizistisch beistehen. Umso erfreulicher sei es, dass den Brief auch zahlreiche Angehörige der Bundeswehr unterzeichnet hätten, sagt Nachtwei. "Das war mir auch wichtig. Auffallend war, dass keiner derjenigen, die ich wegen einer Unterschrift kontaktierte, diese verweigerte. Das zeigt, wie wichtig es den Kommandeuren und Soldaten ist, nun ihrerseits Loyalität zu zeigen."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen