1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Die Regierung wird mehr Veränderung wagen müssen"

Carolina Chimoy
24. Juli 2021

Auf Seiten der kubanischen Regierung wächst der Wille zu einem aufrichtigen Dialog, um die anhaltende Misswirtschaft zu überwinden. Das sagt der in Kuba lebende Historiker Rainer Schultz im DW-Interview.

Proteste in Kuba
Tagelang gingen Mitte Juli tausende Kubaner aus Protest gegen die Regierung auf die StraßeBild: Alexandre Meneghini/Reuters

Der deutsche Historiker Rainer Schultz lebt in Kuba und befasst sich seit über zwanzig Jahren mit der politischen Entwicklung des Landes. Als Leiter eines US-Forschungszentrums im Inselstaat ist er auch im ständigen Dialog mit den kubanischen Behörden. Im Interview mit der DW sagt er, dass die aktuellen Proteste der Beginn einer tiefgreifenden Veränderung auf der Insel sein könnten. 

Deutsche Welle: Herr Schultz, auf die jüngsten landesweiten Proteste antwortete die Regierung in Havanna mit einer Verhaftungswelle. Gibt es abgesehen davon noch andere Reaktionen des kubanischen Regimes? 

Rainer Schultz: In den Reihen der kubanischen Regierung gibt es diejenigen, die den Status quo verteidigen, aber es gibt auch jene, denen aufgegangen ist, dass die Mängel wirklich zahlreich sind: Mangel an Elektrizität und Mangel an Lebensmitteln sind einige der Dinge, die die Menschen dazu gebracht haben, auf die Straße zu gehen. Innerhalb der kubanischen Regierung erkennen nun viele, dass es einen tieferen und schnelleren Wandel geben muss. Dabei geht es nicht nur um eine oberflächliche Veränderung, wie etwa den Kubanern ein Dach über dem Kopf und Essen zur Verfügung zu stellen. Es geht um eine dauerhafte Veränderung mit einem positiven Ausblick in die Zukunft. Es wird notwendig sein, zu definieren, wie man einen prosperierenden und nachhaltigen Sozialismus erreichen kann, der das offiziell erklärte Ziel ist. In den vielen Jahren, die ich hier lebe, ist es das erste Mal, dass ich sehe, dass sich etwas auf diese Weise verändern könnte.  

Kubas Präsident Miguel Diaz-Canel stellte sich den Demonstranten - ein Anzeichen für Dialogbereitschaft?Bild: Alexandre Meneghini/Reuters

Was tut die kubanische Regierung, um das Volk zu erreichen, das einen Wandel fordert? 

Die kubanische Regierung ist sich bewusst, dass die Gründe für den Unmut sozioökonomischer Natur sind. Die Situation wurde durch die Pandemie und die daraus resultierenden fehlenden Einnahmen für ein Land, das stark vom Tourismus abhängt, weiter verschärft; aber auch die mangelnde Grundversorgung konnte noch nicht überwunden werden. Viele in der Regierung sind sich bewusst, dass auch sie die Verantwortung dafür tragen, und haben Angst, Entscheidungen zu treffen, obwohl sie wissen, dass sich die Bedingungen verbessern müssen. Also suchen sie nach Maßnahmen, um die Situation zu lindern. Die kubanische Regierung sucht den Dialog. 

Welche Art von Dialog? Man sieht bisher nur Verhaftungen. Gibt es den Willen zu einem aufrichtigen Dialog? 

Ja! Natürlich gibt es diejenigen, die nichts ändern wollen und auf beiden Seiten nicht an einen Dialog glauben. Aber andere tun es und zeigen Sensibilität für das, was auf den Straßen des Landes passiert, und es gibt eine Debatte darüber und die Möglichkeit zu mehr Offenheit. Viele sind sich bewusst, dass sie mehr Veränderungen wagen müssen. Ich sehe das zum ersten Mal mit dieser Ehrlichkeit. Die Sanktionen gegen Kuba sind etwas, das Kuba in der Tat schadet, und die Einmischung von außen erschwert den Prozess im Inneren, aber es kann keine dauerhafte Ausrede sein, und viele in der Regierung wissen das.  

Sie leben in Kuba, Sie haben Kontakt sowohl mit kubanischen Familien als auch mit der kubanischen Regierung. Haben die Menschen nach den Verhaftungen Angst, auf die Straße zu gehen, um zu protestieren? 

Ja, es gibt Familien, die Angst haben, wegen der Proteste oder möglicher Gewalt hinauszugehen, aber nicht nur wegen der Verhaftungen, die stattgefunden haben, sondern auch wegen der Pandemie. Ich bin mir bewusst, dass die Pandemie an einigen Orten in der Welt vorbei zu sein scheint, wie in Deutschland oder den USA, aber nicht in vielen anderen Ländern wie Kuba. Hier gibt es immer noch Einschränkungen, es gibt immer noch eine Ausgangssperre und es gibt immer noch Ansteckungen - und die Leute haben Angst, rauszugehen. Aber die meisten Kubaner sind - im Gegensatz zu vielen Bildern, die man in den sozialen Medien sieht, - zur Abnormalität der Pandemie zurückgekehrt. Sie arbeiten, genesen, lieben, bauen und stehen in den Geschäften Schlange. 

Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften - In der Corona-Pandemie ist die Versorgungslage auf Kuba noch schlechter geworden als zuvor.Bild: Yamil Lage/AFP/Getty Images

Die US-Regierung hat gerade neue gezielte Sanktionen gegen den Minister der Streitkräfte und Mitglieder des Innenministeriums angekündigt. Welche Auswirkungen wird das haben? 

Sanktionen gegen bestimmte Personen in der Regierung gab es schon früher in der einen oder anderen Form. Der ehemalige Präsident Donald Trump verhängte insgesamt 243 zusätzliche Sanktionen gegen Kuba - die auch unter der Biden-Administration in Kraft bleiben - trotz des großen Schadens, den sie dem Land und seiner Bevölkerung zufügen. Die jüngsten US-Sanktionen werden nichts mehr bewirken und sind größtenteils symbolisch. Sie liefern jedoch der kubanischen Regierung Argumente, um die USA als den großen Feind und Kuba als ein Opfer des "Imperiums des Nordens" darzustellen. Allerdings scheint mir die Ankündigung über die Aufstockung des Personals in der US-Botschaft in Havanna eine positive Sache zu sein, die mehr Geldüberweisungen auf die Insel ermöglichen wird. 

Sie beschäftigen sich seit mehr als 20 Jahren mit der kubanischen Politik, den Beziehungen zwischen den USA und Kuba und den deutsch-kubanischen Beziehungen. Was wäre die bessere Alternative zu Sanktionen? 

Eine Politik, wie sie der ehemalige Präsident Barack Obama verfolgte, das heißt, einen Dialog mit Kuba zu etablieren und aufrechtzuerhalten, eine Präsenz im Land zu haben, in Bereichen von gemeinsamem Interesse zusammenzuarbeiten, von denen es viele gibt: bei Umweltfragen, Naturkatastrophen, Migration, Drogenhandel, Wissenschaft und Pandemien, um nur einige zu nennen. Das allein könnte eine größere Offenheit, gegenseitiges Vertrauen und Veränderung im Land bewirken, so wie es damals begonnen wurde. 

Wäre die Biden-Administration überhaupt offen dafür, dies in Erwägung zu ziehen, wenn man bedenkt, dass im nächsten Jahr Senatswahlen in den USA anstehen? 

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Demokraten brauchen die Stimmen der Exil-Kubaner und der Venezolaner. Sollte die derzeitige US-Regierung in der Frage des Sozialismus "Schwäche" zeigen, könnte dies die Demokraten Stimmen kosten, insbesondere in Florida, wo Senatoren und andere politische Vertreter kubanischer Herkunft großen Einfluss haben. Hier kann Biden nicht riskieren, Stimmen zu verlieren. Andererseits ist die öffentliche Meinung veränderlich. Es gibt auch viele, die ihre Meinung über Obamas Politik der Annäherung geändert haben. Umfragen zeigen, dass US-Amerikaner, die früher Sanktionen befürwortet haben, nun zum Dialog neigen, auch unter den kubastämmigen Amerikanern. Schlussendlich ist es oft die eigene Familie, die auf der Insel leidet.