"Mo Yan erzählt Räuberpistolen"
11. Oktober 2012DW: Mo Yan erhielt den diesjährigen Literaturnobelpreis. Ist denn Mo Yan aus Ihrer Sicht ein Schriftsteller von Weltrang, der diese höchste Literaturauszeichnung verdient?
Wolfgang Kubin: Ich habe Mo Yan unentwegt in aller Öffentlichkeit kritisiert. Er ist der von mir meist kritisierte chinesische Autor überhaupt. Deswegen sollte ich jetzt mal zunächst sagen: Ich freue mich für ihn, für China und für die chinesische Literatur. Gleichwohl bleibt meine Kritik nach wie vor berechtigt.
Bei Mo Yan: Was liest man da? Man muss sagen, dass Mo Yan in der Lage ist, Romane zu schreiben, die sich verkaufen lassen. Es gibt hier in China viel bessere Autoren, die nicht so prominent sind, weil sie nicht ins Englische übersetzt werden bzw. nicht diesen überragenden amerikanischen Übersetzer Howard Goldblatt haben. Goldblatt übersetzt nach einer ganz raffinierten Methode ins Englische. Er übersetzt nicht Wort für Wort, Satz für Satz, Abschnitt für Abschnitt. Er übersetzt das Ganze. Das ist eine Übersetzungsmethode, die in Europa seit ungefähr dem 18. Jahrhundert üblich ist. Das heißt: Howard Goldblatt weiß genau, wo die Schwächen der Autoren sind. Und er rafft alles zusammen und übersetzt es in eine englische Sprache, die besser ist als das, was im Chinesischen abgeliefert wurde. Deswegen wird auch beispielsweise oft aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, statt die Werke der Autoren direkt vom Chinesischen ins Deutsche zu übersetzen.
Was ist denn der Kernpunkt Ihrer Kritik an Mo Yan?
Er erzählt Räuberpistolen. Er schreibt in einem Stil vom Ende des 18. Jahrhunderts. Er wagt als Angehöriger der KP Chinas nur eine system-immanente Kritik, aber keine system-auswärtige Kritik. Und er erzählt ganze Geschichten, die man seit Proust und Joyce (Marcel Proust, französischer Schriftsteller, und James Joyce, irischer Schriftsteller. Anm. der Red.) einfach nicht mehr erzählen kann, wenn man einen modernen Roman schreiben will. Ich muss jetzt gerechterweise sagen: Kein Publikum der Welt - auch das deutsche nicht - nimmt einen James Joyce noch an. Was das Publikum will, sind Räuberpistolen, sind das, was man "Saga" nennt. Wo es noch einen Großvater gibt, dann kommt der Vater, dann kommen die Enkel. Es wird dann erzählt über 30 bis 40 Jahre. Moderne Erzählung wird zum Beispiel repräsentiert vom Österreicher Walter Kappacher, der 2009 den Georg-Büchner-Preis erhielt. Da erzählt man elf Tage aus dem Leben eines einzigen Menschen und konzentriert sich auf eine einzige Person. So etwas macht aber kein Erzähler in China, weil das Publikum dort - und inzwischen auch das Publikum in Deutschland - einfach erwartet, dass da wieder quasi ein Film vorgeführt wird, und nicht, dass sich der Schriftsteller auf die Psyche eines einzelnen Chinesen konzentriert.
Sie erwähnten bereits, dass Mo Yan nur system-immanente Kritik übt. Seine Kritiker werfen ihm zum Teil auch seine Nähe zur Kommunistischen Partei vor.
Wenn Sie das "Rote Kornfeld" gelesen haben, da treten Personen auf, die die KP Chinas in den höchsten Tönen loben. Das ist außerordentlich peinlich. Aber vergessen wir das mal. Das Hauptproblem bei Mo Yan ist, dass er überhaupt keine eigenen Gedanken hat. Und er hat selber öffentlich sagt, ein Schriftsteller brauche gar keine Gedanken. Was er macht, sind Bebilderungen. Er bebildert das von ihm selber leidvoll erfahrene Leben der 50er Jahre und darüber hinaus. Und das macht er mit grandiosen Bildern. Aber mich persönlich langweilt das zu Tode.
Was hat das Nobelkomitee Ihrer Meinung nach zur Preisvergabe an Mo Yan bewogen?
Gerechterweise muss man sagen, dass in der Vergangenheit immer wieder Leute diesen Preis bekommen haben, die ihn eigentlich gar nicht verdient hätten. Ich denke, dass da möglicherweise eine gewisse politische Korrektheit eine Rolle gespielt hat. Dass man meinte, es muss jetzt endlich mal ein "echter" Chinese sein und nicht zum Beispiel der viel bessere und sehr viel repräsentativere Bei Dao, der jetzt einen amerikanischen Pass hat.
Glauben Sie, dass eine Wirkung von dieser Preisvergabe auf chinesische Literaten ausgehen wird?
Nur im schlechten Sinne. Denn was Erzähler - von wenigen guten Erzählern, die es ja gibt, einmal abgesehen - erzählen, sind immer nur Räuberpistolen. Das Hauptproblem bei Mo Yan ist: Er war Avantgardist in den 80er Jahren. Und als solchen habe ich ihn in meinen Zeitschriften und Schriften in den 80er Jahren auch vorgestellt. Damit konnte man aber nichts gewinnen. Und seitdem in China der Markt herrscht, hat man sich darauf besonnen, was man in China und im Westen verkaufen kann. Und dann hat man in China schnell erkannt, auf die klassische traditionelle chinesische Erzählweise zurückgreifen zu müssen, wie sie in den letzten 300 bis 400 Jahren üblich war. Denn dann haben sie ein Publikum. Das heißt, es gibt einen allwissenden Erzähler. Und im Mittelpunkt steht nicht eine Person, sondern hunderte. Inhaltlich geht es immer um die gleichen, alten Dinge von Mann und Frau, Räuberpistolen, Sex und Crime und so weiter. Dann wird man erfolgreich. Und da ist es inzwischen auch so, dass nicht nur der chinesische, sondern auch der amerikanische und deutsche Markt von solchen Erzählern bedient wird. Und die vertreten dann eben entsprechend "die chinesische Literatur". Dabei gibt es ganz andere, viel bessere. Aber das ist ein anderes Geschäft.
Dr. Wolfgang Kubin, emeritierter Professor für Sinologie in Bonn. Seine "Geschichte der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert" gilt als Standardwerk. Die DW erreichte ihn kurz nach der Bekanntgabe des Nobelkomitees in Peking.