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Kujat: Die NATO macht Fehler

Bernd Riegert2. September 2014

Der ehemalige NATO-General Harald Kujat wirft dem Verteidigungsbündnis schwere Fehler im Umgang mit Russland in der Ukraine-Krise vor. Beide Seiten müssten miteinander reden, besonders jetzt, sagt Kujat im DW-Interview.

Harald Kujat
Bild: picture alliance/ZB

Deutsche Welle: Herr Kujat, die NATO will auf ihrem Gipfel in dieser Woche über eine neue Strategie gegenüber Russland nachdenken. Wie sollte die Ihrer Meinung nach aussehen?

Harald Kujat: Die NATO möchte sich besser vorbereiten auf die konventionelle Verteidigung. Die konventionellen Fähigkeiten sollen gestärkt werden. Das ist ein Ergebnis der Ukraine-Krise. Insbesondere die baltischen Staaten, aber auch Polen befürchten, der Funke könnte sozusagen überspringen und sie selbst werden bedroht. Die meisten Staaten, insbesondere Deutschland, Frankreich und Großbritannien, haben ihre Streitkräfte nicht nur dramatisch abgerüstet, sondern sie haben sie strukturell und von der Bewaffnung her auch verändert. Hin zu den Fähigkeiten der Krisen- und Konfliktbewältigung bei gleichzeitiger Reduzierung der Fähigkeit zur konventionellen und kollektiven Verteidigung. Das ist als Problem erkannt worden und das soll geändert werden.

Die NATO sagt ja, sie spiele im Ukraine-Konflikt keine militärische Rolle. Wäre sie denn in der Lage, die östlichen Mitgliedsstaaten, die baltischen Staaten zu verteidigen, falls Russland sie bedrohen sollte?

Das Problem ist die Reaktionszeit. Aufgrund der Veränderungen bräuchte die NATO eine erhebliche Zeit, um in Polen oder den baltischen Staaten eine feste Verteidigungslinie aufzubauen. Das liegt auch an den geografischen Verhältnissen. Da wäre Russland einfach in einer besseren Position. Deshalb verlangen ja auch diese Staaten eine permanente Stationierung von NATO-Truppen auf ihrem Territorium, um diese Reaktionszeit zu verkürzen. Dagegen gibt es Widerstand bei einigen NATO-Staaten. Offensichtlich soll nun eine schnelle Eingreiftruppe eher als bisher in der Lage sein, zu reagieren und innerhalb kürzerer Zeit zumindest Präsenz zu zeigen. Das wäre natürlich ein erheblicher Abschreckungsfaktor und würde zur Sicherheit dieser Länder beitragen.

NATO-Russland-Rat vor der Ukraine-Krise: John Kerry (USA, links) und Sergej Lawrow (Russland) im Dezember 2013Bild: Reuters

Wird das denn ausreichen, um diesen Ländern den gewünschten Schutz angedeihen zu lassen, wenn man dort nur Material und Waffen lagert, aber kein Personal permanent vorhält?

Das Material braucht im Falle eines Falles sehr viel Zeit. Personal kann man relativ schnell verlegen, aber Material eben nicht. Dadurch soll die NATO-Response-Force in die Lage versetzt werden, in kürzerer Zeit zu reagieren. Das hätte auch den Vorteil, dass hier eine multi-nationale Truppe auf der Szene erscheint, das heißt, die NATO insgesamt involviert wäre. Natürlich muss man immer daran denken, dass dann auch weitere Truppen in diese Länder verlegt werden müssten. Aber auch Russland braucht eine gewisse Zeit, um überhaupt angriffsfähig zu sein. Wenn man ein wirksames Frühwarnsystem hat, dann kann man das durchaus ausgleichen.

Das Verhältnis zwischen NATO und Russland ist bislang auf der Grundlage der "NATO-Russland-Grundakte" gestaltet worden. Die verbietet, so ist die gängige Lesart, die permanente Stationierung von größeren NATO-Einheiten in den östlichen Mitgliedsstaaten. Wäre es an der Zeit, sie zu überarbeiten oder zu kündigen?

Dieser Passus in der Grundakte ist eine einseitige Erklärung der NATO. Da heißt es, die NATO beabsichtigt nicht, größere Stationierungen vorzunehmen. Eine einseitige Erklärung! Und die kann man natürlich jederzeit wieder zurücknehmen, aber ich denke, das wäre ein großer Fehler. Denn der Wert der strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und Russland ist sehr viel größer als der Wert, den man erreichen könnte, wenn man im Baltikum Truppen stationiert. Das wäre eher eine Eskalation oder eine Verschlechterung der Beziehungen.

Nein, es geht darum, die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland zu verbessern, bereit zu sein, Konflikte und Krisen zu lösen. Da ist das gesamte Instrumentarium, das zur Verfügung steht, eigentlich einmalig nach dem Kalten Krieg. Es wäre schade, wenn man das kaputtmachen würde.

Diese strategische Partnerschaft ist natürlich in den letzten Jahren erschüttert worden durch das Verhalten Russlands auf der Krim oder jetzt in der Ostukraine. Der NATO-Generalsekretär und der NATO-Oberbefehlshaber in Europa sagen beide, Russland sei kein Partner mehr, sondern eher eine Bedrohung, ein Gegner. Würden Sie diese Einschätzung teilen?

Nein, überhaupt nicht. Dieses sind Äußerungen, die nicht dazu beitragen, die Situation zu deeskalieren, sondern zu eskalieren. Womit wir es zu tun haben, ist eine regional zunächst einmal begrenzte Krise. Es gibt Interessen aufseiten Russlands und es gibt Interessen aufseiten der Mitgliedsstaaten der NATO.

Die Organisation, die NATO als solche, hat gar keine Interessen. Gerade hier sagt die Grundakte, immer dann, wenn die Sicherheit beider oder die Sicherheitsinteressen einer Seite betroffen sind, dann setzen sich die Partner zusammen und suchen in bester Absicht eine Lösung des Konflikts. Das hat die NATO bislang nicht getan. Das hat sie auch 2008 nicht getan, als der Konflikt zwischen Russland und Georgien entstand. Sie hat zwar formal die Zusammenarbeit nicht aufgekündigt, sie hat die praktischen Programme aufgekündigt oder ruhen lassen. Das ist ein Fehler!

Russland hat sich in der Ukraine in eine Situation hineinmanövriert, die im Grunde eine Sackgasse ist. Aber der Westen auch, denn die Sanktionen führen am Ende zu nichts. Das ist eigentlich die letzte Möglichkeit, noch zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, aber dazu muss man sich an einen Tisch setzen.

Wäre es aus Ihrer Sicht besser gewesen, parallel zum Gipfel oder nach dem Gipfel auch einen NATO-Russland-Rat stattfinden zu lassen und darüber zu reden? Es wird eine NATO-Ukraine-Kommission geben, aber keinen NATO-Russland-Rat.

Ja, das ist in der Tat ein Fehler. Aber so kurzfristig hätte das jetzt keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Das hätte man langfristig vorbereiten müssen. Da hätten zunächst die Außenminister miteinander reden müssen und dann hätte man das bis zu den Staats- und Regierungschefs steigern können. Das ist wirklich bedauerlich, dass die NATO hier auf so eklatante Weise versagt.

General a. D. Harald Kujat (72) war als Generalinspekteur der Bundeswehr von 2000 bis 2002 der ranghöchste Soldat der deutschen Streitkräfte und enger Berater der rot-grünen Bundesregierung. Von 2002 bis 2005 leitete er den Militärausschuss der NATO, das höchste militärische Beratungsgremium der Allianz.

Die NATO-Russland-Akte von 1997 begründet eine strategische Partnerschaft und beendet formal die Gegnerschaft zwischen den Vertragsparteien. Die Grundakte sieht die Schaffung eines ungeteilten Kontinents Europa vor. Sie war Voraussetzung neuer östlicher NATO-Mitglieder vom Jahr 1999 an.

Das Interview führte Bernd Riegert.

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