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Künstler in der Türkei: Alltäglicher Druck

Beklan Kulaksızoğlu
31. Juli 2019

Künstler und Kulturschaffende stehen in der Türkei zunehmend im Visier von Ermittlungsbehörden. Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda sind die häufigsten Vorwürfe. Auch Prominente bleiben nicht verschont.

Türkei Protest nach Bürgermeisterwahl in Istanbul
Bild: Getty Images/AFP/B. Kilic

In der Türkei ist die Zahl der Ermittlungen und Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung oder Terrorpropaganda in den letzten Jahren explosionsartig angestiegen. Nicht nur Politiker, Journalisten oder Aktivisten, sondern auch Akademiker und einfache Bürger sind betroffen. Künstler und Kulturschaffende sind ebenfalls zunehmend im Visier der Ermittlungsbehörden.

Früher waren eher jene Künstler betroffen, die sich mit politischen Themen wie der Kurdenfrage auseinandersetzten. Oder Kunstwerke, die von Ermittlern als "pornographisch" bewertet wurden, die in den Augen der Behörden "den moralischen Werten der türkischen Gesellschaft" nicht entsprachen. Aber juristisches Vorgehen gegen Künstler mit Millionen Fans war eher ungewöhnlich. 

Auch populäre Künstler betroffen

Der jüngste Fall war Zuhal Olcay, eine berühmte Sängerin und Schauspielerin, die in der Türkei zahlreiche Preise gewonnen und eine sehr große Fangemeinde hat. Der Berufungsgerichtshof bestätigte im Juli, dass die 62-Jährige 11 Monate und 20 Tage im Gefängnis verbringen muss. Zuhal Olcay hatte bei einem Auftritt die Strophe eines ihrer Lieder umgedichtet auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Botschaft: Auch seine Zeit würde einmal vorbei sein. Sie soll dabei eine beleidigende Handbewegung gemacht haben. Ein Denunziant im Publikum hatte die Polizei gerufen und alles ins Rollen gebracht.

Die populäre Sängerin und Schauspielerin Zuhal Olcay muss ins GefängnisBild: picture-alliance/B. Kammerer

Am selben Tag wurden die beiden Dokumentarfilmer Ertugrul Mavioglu und Cayan Demirel für ihren Film "Bakur" wegen angeblicher Terrorpropaganda zu jeweils vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Ihr Film spielt in den Bergen des Nordirak. In den Lagern der kurdischen Untergrundorganisation PKK reden Kämpfer über ihren Alltag und ihre Ansichten. Die PKK ist sowohl in der Türkei als auch in der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft. In den Jahren 2013 und 2014, als der Film entstand, saß die türkische Regierung jedoch mit der PKK am Verhandlungstisch für den sogenannten "Friedensprozess". Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan hatte angeordnet, dass sich die Kämpfer aus dem türkischen Territorium zurückziehen sollen. Der Dokumentarfilm hatte nach Angaben der Filmemacher das Ziel, den Rückzugsprozess zu begleiten.

Das Plakat zum Dokumentarfilm "Bakur"

Der Friedensprozess brach aber 2015 zusammen. Nachdem der Film fertig produziert war, kam er ins Programm des renommierten internationalen Istanbuler Filmfestivals. Doch das türkische Kulturministerium ließ den Film nicht zu. Eine ungewöhnliche Einmischung, die seitens der Kulturszene als Zensur bewertet wurde und viel Kritik erntete. Der Dokumentarfilm wurde allerdings nicht verboten. 2017, also erst zwei Jahre danach, wurden die beiden Dokumentarfilmer angeklagt. Ertugrul Mavioglu verteidigte sein Werk: "Wenn man unseren Dokumentarfilm unbedingt als Propaganda betrachten will, dann wäre es keine Kriegs-, sondern Friedenspropaganda", sagte er sinngemäß.

Ermittlungen gegen Schauspiellegenden

Dass 2018 gegen zwei Schwergewichte der türkischen Theater-und Kinoszene Ermittlungen eingeleitet wurden, hat dann erneut viele in der Gesellschaft überrascht. Der 76-jährige Müjdat Gezen und der 78-jährige Metin Akpinar hatten Ende Jahres in einer Fernsehshow den türkischen Staatspräsidenten Erdogan und die antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei kritisiert und vor Faschismus gewarnt. Erdogan nannte die beiden sehr populären Männer "Möchtegernkünstler” und drohte, dass sie den Preis für ihre Aussagen vor der Justiz zahlen würden. Blitzschnell gaben die Behörden danach bekannt, dass gegen die beiden ermittelt werde.

Metin Akpinar (links) und Müjdat GezenBild: picture-alliance/abaca/Depo Photos

Die Zahlen sprechen für sich. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurde 2017 gegen 20.539 Menschen wegen Präsidentenbeleidigung ermittelt, gegen 6.033 sogar Anklage erhoben. Zum Vergleich: 2014, als Recep Tayyip Erdogan zum Präsidenten gewählt wurde, gab es nur 132 neue Ermittlungen. Die Zahl der Verurteilten stieg parallel dazu. Während 2014 nur 40 Menschen verurteilt wurden, gaben es 2017 schon 2.099 Verurteilte.

Einschüchterung und Selbstzensur

Viele Kritiker sehen die zunehmenden Ermittlungen als Einschüchterungsversuch der Regierung gegen Andersdenkende. Selbstzensur ist weit verbreitet, vor allem in den Medien und in der Kunstszene. Dass sich der Staatspräsident immer wieder persönlich einmischt und die Kritiker mit harten Vorwürfen wie Landesverrat oder Terrorismus bedroht, macht es den Ermittlungsbehörden und den Richtern schwer, zugunsten der Freiheiten zu handeln, so die Kritiker. Regierungsnahe Medien tun ihr übriges und verunglimpfen die Betroffenen mit schweren Vorwürfen, bevor die Betroffenen überhaupt vor Gericht stehen.

Wende in der Politik?

Nach der umstrittenen Annullierung der Oberbürgermeisterwahlen in Istanbul rief der oppositionelle Wahlsieger Ekrem Imamoglu von der republikanischen Volkspartei CHP die Künstler dazu auf, ihre Stimme zu erheben. Hunderte von Künstlern folgten ihm und zeigten ihre Unterstützung mit dem Wahlkampagnenslogan "Her sey çok güzel olacak", (dt. "Alles wird sehr schön werden"). Vor allem in den Sozialen Medien folgten viele Anhänger Imamoglus diesem Slogan. Diese Künstler wurden immer wieder in regierungsnahen Medien attackiert, eine Namensliste von den unterstützenden Künstlern wurde im Twitter-Konto eines Mitarbeiters des Präsidialamts mit dem Vermerk "Registriert" veröffentlicht. Nach heftiger Kritik musste der Vorsitzende des Archivamts seinen Account schützen lassen.

Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu am Tag seiner AmtsübernahmeBild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis

Mit dem Wahlerfolg Ekrem Imamoglus am 24.Juni sind sich viele Beobachter einig, darunter auch Erdogan-nahe Insider: Die Einschüchterungs- und Polarisierungspolitik des Staatspräsidenten hat bei der Wahlniederlage des AKP-Kandidaten eine erhebliche Rolle gespielt. Nach den Wahlen hat Erdogan Reformen angekündigt, in Wirtschaft, Justiz und sogar in dem von vielen kritisierten Präsidialsystem, das ihn mit weitreichenden Vollmachten ausstattete. Die türkische Gesellschaft wartet ungeduldig auf die Umsetzung und hofft, dass einiges "sehr schön" wird.

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