70 Jahre Ruhrfestspiele Recklinghausen
1. Mai 2016Zahlreiche Theater-Produktionen stellen dieses Jahr vom 1. Mai bis zum 19. Juni das Mittelmeer in den Fokus. Sie kreisen thematisch um die Flüchtlingsdebatte und um Migration. Denn was die Römer in der Antike "mare nostrum" ("unser Meer") nannten, verbindet nicht nur Länder, sondern ist heute für Tausende Flüchtlinge auf der Suche nach einer sicheren Heimat eine todbringende Grenze.
Frank Hoffmann: Theater ist da, wo es weh tut
"Wir können nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen", sagt Intendant Frank Hoffmann. "Da wo es weh tut, müssen die Kunst und das Theater aktiv werden." So bearbeitet der italienische Regisseur Romeo Castellucci die "Orestie" von Aischylos, während Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek aus der 2500 Jahre alten Tragödie "Die Schutzflehenden" des griechischen Dichters ein hochaktuelles Theaterstück gemacht hat. In dem Stück "Die lebenden Toten" beschreibt der dänische Autor Christian Lollike einen Zombie-Angriff auf dem Mittelmeer, den die EU-Grenzschutzagentur Frontex abzuwehren versucht.
"Auch wenn es um harte Themen geht, ist Theater keine Strafe, sondern ein Fest", betont Intendant Hoffmann. So stehen auch Tanz, Artistik, Musik, Clownerie, Comedy oder Figurentheater aus Finnland über Deutschland und Tschechien bis Neuseeland beim "Fringe Festival" auf dem Spielplan. Außerdem beginnen die vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mitfinanzierten Ruhrfestspiele am heutigen 1. Mai traditionell mit einem Volksfest. Dass das Festival jedes Jahr am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, eröffnet wird, ist kein Zufall. Die Ruhrfestspiele entstanden, um die Arbeiter-Gesellschaft der Industrie-Region Ruhr mit Kultur zu versorgen. Die Entstehungsgeschichte geht zurück bis auf die Nachkriegszeit.
Start der Ruhrfestspiele Recklinghausen durch "Kunst gegen Kohle"
Im eisigen Winter 1946/1947 fuhren Theaterleute aus dem zerbombten Hamburg mit einem Lastwagen ins Ruhrgebiet, um Kohle für ihre Spielstätten aufzutreiben. Kumpel der Zeche "König Ludwig 4/5" in Recklinghausen halfen den frierenden Künstlern - und schleusten an der englischen Besatzungsmacht die Kohle vorbei. Im Sommer darauf kamen die Schauspieler zurück ins Revier und bedankten sich mit Theateraufführungen. "Kunst gegen Kohle" - die Ruhrfestspiele, eine Verbrüderung von Künstlern und Kumpel, waren geboren.
Während das Programm in den ersten Jahren von klassischem Theater-Repertoire wie Goethe, Schiller und Shakespeare sowie von populären Opern wie Mozart, Verdi und Wagner geprägt waren, wurde 1952 erstmals Gegenwartstheater auf den Spielplan gesetzt. 1955 kam mit "Herr Puntila und sein Knecht Matti" zum ersten Mal ein Brecht-Stück auf die Bühne. In den 1960er und 1970er Jahren wurde das Programm der Ruhrfestspiele insgesamt politischer.
1990/1991 wurde das Festival zum Europäischen Theater reformiert. Der damalige Festspielleiter Hansgünther Heyme legte besonderen Wert auf die Zusammenarbeit mit ausländischen Theatern. Auch, um aufkeimendem Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit entgegen zu wirken.
100 Produktionen, über 300 Vorstellungen, rund 80.000 Besucher
Seit 2005 hat der Luxemburger Frank Hoffmann die Festivalleitung übernommen. Der 62-Jährige übernahm die Intendanz in einer Krise: In der turbulenten Ära des Berliner Volksbühnen-Leiters Frank Castorf hatte sich die Zuschauerzahl der Ruhrfestspiele 2004 auf nur noch etwa 22.000 reduziert. In seiner rund zehnjährigen Intendanz steigerte Hoffmann die Zuschauerzahl des sechswöchigen Festivals mit inzwischen mehr als 100 Produktionen und über 300 Vorstellungen auf über 80.000.
Namen wie Kevin Spacey, Jeff Goldblum, Cate Blanchett, Ethan Hawke, Charlotte Rampling und Juliette Binoche locken die Besucher jedes Jahr an. Ein Aufgebot, das Hoffmann auch Spott für sein "Promi-Theater" einbrachte. Diese Saison kommen Hanna Schygulla, Peter Simonischek, Ulrich Matthes und Fritzi Haberlandt nach Recklinghausen. Das Théâtre National du Luxembourg und das italienische Theaterkollektiv Socìetas Raffaello Sanzio sind dieses Jahr zu Gast.
Die Ruhrfestspiele "als Fenster nach draußen"
Das Erfolgsgeheimnis der Ruhrfestspiele ist die Dichte an Premieren und Uraufführungen aus dem deutschsprachigen Raum, die in Kooperation mit den wichtigsten Bühnen von Dresden über Berlin bis Hamburg, Leipzig und München und Wien entstehen. "Wir haben eine besondere Stellung, und die füllen wir auch aus", sagt Hoffmann. "Die Ruhrfestspiele sind ein Fenster nach draußen."
Das Prinzip "Kunst gegen Kohle" funktioniert im heutigen Ruhrgebiet nicht mehr. Bis auf eine Grube sind im Revier alle Zechen stillgelegt, und es gibt nur noch einige tausend Bergleute. Die Ruhrfestspiele aber sind eines der ältesten, größten und renommiertesten Theaterfestivals in Europa.
ld/dh (dpa, epd, ruhrfestspiele.de)