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KulturGlobal

100 Jahre Surrealismus: Zwischen Traum und Wirklichkeit

15. Oktober 2024

Der Zerrissenheit der Welt setzten surrealistische Künstler wie Salvador Dali ihre Träume und Visionen entgegen. Vor 100 Jahren revolutionieren sie damit unsere Wahrnehmung und die Kunst.

Das Gemälde von Salvador Dalí zeigt eine Traumlandschaft mit zerfließenden Uhren
"Die Beständigkeit der Erinnerung" - Salvador Dali schuf die Ikone des SurrealismusBild: akg-images/picture-alliance

Die karge Küstenlandschaft hat so gar nichts mit der Realität zu tun: Unter verhangenem Himmel steht eine Kiste, aus der ein blattloser Baum ragt. Auf der Erde liegt ein Körper, der an ein verendetes Pferd erinnert. Drei schmelzende Taschenuhren hängen wie nasse Handtücher herum, eine vierte ist von Ameisen bevölkert. Mit seinem Gemälde "Die Beständigkeit der Erinnerung" von 1931 hat Salvador Dalí (1904-1989) eine wahre Traumlandschaft erschaffen, reich an Symbolen. Es ist das berühmteste Bild des spanischen Malers - bis heute eine der Ikonen des Surrealismus.

Surrealist mit Spitzbart: Der Spanier Salvador Dalí zählte zu den wichtigsten Vertretern der KunstströmungBild: AFP/picture alliance

Absage an den bourgeoisen Zeitgeist 

Rückblick ins Paris der "Les Années Folles", der Goldenen Zwanziger Jahre: Nach den Gräueln des Ersten Weltkriegs (1914-1918) hungern die Menschen nach Leben, man ist rastlos und optimistisch und möchte möglichst viel erleben. 1924 elektrisieren die Olympische Spiele die Stadt. Mit den Sportlern strömen viele Künstler, Schriftsteller, Musiker und Intellektuelle nach Paris und machen es zum kulturellen Zentrum Europas. Doch es gibt auch jene, die sich nicht länger mit einer Gesellschaft abfinden wollen, die einen so barbarischen Krieg möglich gemacht hat. Sie fordern ein radikales Umdenken.

Es ist eine politisch-künstlerische Gegenbewegung, die sich da formiert. Ob Maler, Filmemacher, Literaten oder Musiker: Die Anhänger der neuen Kunstrichtung erteilen dem bourgeoisen Zeitgeist eine Absage. 

Eine neue Wirklichkeit

Die Surrealisten suchen - abseits von Logik und Rationalität - nach einer neuen, höheren Wirklichkeit, der Surrealität: Das Unbewusste, Träume, Rauschzustände, unterdrückte Begierden, Visionen, verrückte Ideen - all das braucht es, wie die Surrealisten meinen, um die Gesellschaft von ihren moralischen Fesseln zu befreien. Inspiriert von der Traumdeutung Sigmund Freuds (1856-1939) wollen sie "den Schleier der Realität zerreißen".

Der Vordenker und Anführer der Surrealisten - André BretonBild: Heritage-Images/picture alliance

Einer ihrer Vordenker ist André Breton, ein französischer Schriftsteller und Kritiker. Im Oktober 1924 verfasst er das erste Manifest des Surrealismus, in dem er die neue Bewegung in der Kunst vorstellt. "Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität." 

Dieser neue Begriff gilt vielen Zeitgenossen, die damals der etablierten traditionellen Kunstauffassung folgen, als provokant, ja nahezu anarchistisch. Doch viele Künstlerinnen und Künstler fühlen sich von der neuen Geisteshaltung inspiriert.  

Von Pfeifen und Augäpfeln

Da ist etwa "La trahison des images" (Der Verrat der Bilder) des Belgiers René Magritte: Sein Gemälde zeigt eine Pfeife, darunter steht die Behauptung "Ceci n'est pas une pipe" (Das ist keine Pfeife). Das wirkt rätselhaft, ist aber  genau genommen korrekt; schließlich sehen wir keine Pfeife, sondern ein Bild von einer Pfeife. 

"Dies ist keine Pfeife" behauptet die Bildunterschrift unter René Magrittes Gemälde einer PfeifeBild: IAN LANGSDON/dpa/picture alliance

Mit dem Schwarz-Weiß-Film  "Ein andalusischer Hund" brachte der spanische Regisseur Luis Buñuel 1929 zusammen mit seinem Freund Salvador Dalí erstmal ein surrealistisches Werk auf die Kinoleinwand. Die Handlung speiste sich aus Träumen der beiden: Im Prolog schärft ein Mann ein Rasiermesser, dann zieht eine Wolke am Vollmond vorbei. Es folgt die schockierende Szene, in der der Mann einer Frau mit dem Rasiermesser durch den Augapfel schneidet. Nichts an dem Film sollte rational, logisch oder kulturell erklärbar sein, auch der Titel wurde ohne Bezug zum Inhalt gewählt. 

Die Rebellion der Surrealisten

Der deutsche Maler Max Ernst (1891-1976) ist ein Surrealist der ersten Stunde. Er zeichnet spektakuläre Phantasielandschaften, bevölkert von Phantasiefiguren. Dafür entwickelte er Zufallstechniken, etwa die Frottage, bei der er die Oberflächenstruktur von Materialien durch "Abpausen" auf Papier übertrug. Seine Tropftechnik wird später von Jackson Pollock, einem Pionier des US-amerikanischen Abstrakten Expressionismus, zum "Drip Painting" weiterentwickelt.

Max Ernst versammelte seine Künstlerfreunde auf dem Gemälde "Au rendez-vous des amis"Bild: Archives Snark/Photo12/picture alliance

In vielen Bildern der Surrealisten prallen Gegensätze aufeinander. Berühmt wird etwa die mit Pelz überzogene Teetasse der Berlinerin Meret Oppenheim (1913-1985). Verdrehte Perspektiven, geheimnisvolle Wesen: Häufig lösen Künstler die Dinge aus ihrem gewohnten Zusammenhang, kombinierten sie neu und ermöglichten so einen veränderten Blick auf die Welt. Manche Bilder sind verstörend, wie etwa Frida Kahlos emotionales Selbstporträt "Henry Ford Hospital" von 1932. Es zeigt die Mexikanerin (1907-1954) in einem fliegenden Bett nach einer Fehlgeburt.

Joan Miró 1978 neben einem seiner Bilder Bild: AP Photo/picture alliance

Im Kreis der Surrealisten darf auch der Katalane Joan Miró (1893-1983) nicht fehlen, ein Poet der Farben. Oder der Bretone Yves Tanguy (1900-1955), dessen Traumlandschaften bis heute Rätsel aufgeben. Ganz zu schweigen von dem deutsch-französischen Maler Jean Arp (1886-1966) oder dem US-amerikanischen Fotografen, Filmregisseur, Maler und Objektkünstler Man Ray alias Michael Rudnitzky (1890-1976). Sein in Paris 1924 entstandenes Aktfoto der Frau mit dem Geigenkörper "Le Violon d'Ingres" kennt heute jeder. Vor zwei Jahren ging es bei Christie's für 12,4 Millionen Dollar über den Auktionstisch, die teuerste Fotografie aller Zeiten.

Und André Breton? Er widmete sich als einer der ersten der "écriture automatique", eine Methode des intuitiven Schreibens, mit der er Bilder, Gefühle und Worte des Unterbewussten zu Papier brachte: freie Assoziation als eine neue Form der Poesie und der experimentellen Literatur. Breton beschrieb den Vorgang als "Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft". Am ehesten solle dies gelingen, wenn man sich unmittelbar nach dem Aufwachen, quasi noch im Halbschlaf, an den Schreibtisch setzt und die im Dämmerzustand formulierten Sätze aufschreibt. 

Jubiläumsausstellungen weltweit

Noch eine Ikone des Surrealismus: Man Rays Fotografie zeigt einen Frauenrücken mit aufgemalten ViolinschlüsselnBild: FACUNDO ARRIZABALAGA/dpa/picture alliance

Die Surrealisten rebellierten gegen erstarrte Normen und Gewohnheiten. Sie malten, schrieben und filmten gegen Logik und Pragmatismus - und für Gleichberechtigung. Mit den Mitteln der Kunst wollten sie eine gesellschaftliche Revolution anzetteln. Doch revolutionierten sie vor allem unsere Wahrnehmung, die heute vor einer neuerlichen Zeitenwende steht: Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen erlauben eine kaum mehr nachvollziehbare Verschränkung von Realität und Virtualität. Wann die Kunstströmung des Surrealismus abflacht, lässt sich nicht genau datieren, aber vermutlich mit dem Aufkommen neuer Kunstrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg 1945, etwa des Abstrakten Expressionismus in den USA.

Wer die Surrealisten heute neu befragen möchte, sollte an den Ort ihres Wirkens pilgern. Das Pariser Centre Pompidou rollt ihnen mit einer Blockbuster-Schau den roten Teppich aus, die noch bis Januar 2025 dauert und dann durch Europa tourt. Die Hamburger Kunsthalle, das Lenbachhaus in München und viele andere Museen rund um den Globus ergänzen den Ausstellungsreigen im Jubiläumsjahr der Surrealisten.

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