In politisch aufgewühlten Zeiten geht es auch in der Kultur verstärkt darum, Stellung zu beziehen. Das Jahr 2018 hat verdeutlicht, wie notwendig die streitbare Auseinandersetzung und wie unklar manche rote Linie ist.
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Die Kulturaufreger des Jahres 2018
Die Kultur zeigte sich 2018 recht streitbar: Was geschieht mit Raubkunst, ist Antisemitismus preiswürdig, wie glaubhaft ist die #MeToo-Rede der Freundin eines #MeToo-Täters - und warum schreddert ein Künstler sein Werk?
Bild: picture-alliance/dpa/N. Armer
Hinter der Fassade
Beginnen wir mit einem Gedicht, das nicht mehr existiert - zumindest nicht an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin, deren Studierendenausschuss in "Avenidas" des bolivianisch-schweizerischen Dichters Eugen Gomringer Sexismus zu erkennen glaubte - und das Übermalen durchsetzte. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach von einem "erschreckenden Akt der Kulturbarbarei".
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Keine Medaille für die Literatur
Im Mai sagte die Schwedische Akademie den Literaturnobelpreis ab. 18 Frauen hatten dem Ehemann des Akademiemitglieds Katarina Frostenson sexuelle Belästigung vorgeworfen, das Paar soll auch Gelder unterschlagen und die Namen von Nobelpreisträgern vorzeitig weitergegeben haben. Die Akademie gilt als zerrüttet. Sofern dieser Plot jemals verfilmt wird, sollte Bob Dylan den Soundtrack dafür liefern.
Antisemitismus oder politischer Protest?
Die israelische Sängerin Netta gewann im Mai den Eurovision Song Contest, kurz darauf folgten die ersten Boykottaufrufe zum ESC 2019, der in Israel ausgetragen wird - offiziell wegen Menschenrechtsverletzungen des Landes gegen Palästinenser. Dahinter steckt die umstrittene BDS-Bewegung, die zum Boykott israelischer Künstler aufruft und von deutschen Städten als antisemitisch geächtet wird.
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Fehlendes Gespür I
Davon hatte Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp offenbar nichts mitbekommen. Sie lud die schottische Band Young Fathers - erklärte BDS-Unterstützer - erst ein, dann aus, dann wieder ein. NRW-Ministerpräsident Laschet sagte seine Teilnahme daraufhin ab. Carp bekam einen Aufpasser und sagte zu, sich künftig an die Resolution des Landtags zu halten. Dessen Urteil zu BDS: "klar antisemitisch".
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Antisemitismus oder Kalkül?
Nach der Echo-Nominierung der Rapper Kollegah und Farid Bang hagelte es Kritik wegen deren antisemitischer, homophober und frauenverachtender Texte. Als sie dann auch noch ausgezeichnet wurden, gaben andere Künstler ihre Preise aus Protest zurück. Der Echo schaffte sich ab, die Rapper wurden zum Dank zur Geschichtsnachhilfe in die KZ-Gedenkstätte Auschwitz eingeladen (oben).
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Facebook und die Brustwarzen
Facebook zensierte auch 2018 munter Kunstwerke. So traf es Marianne, Nationalfigur der französischen Republik, die einen Volksaufstand im Bild von Eugène Delacroix barbusig anführt. Laut Richtlinien des Netzwerks werden Fotos von Brüsten entfernt, sobald eine Brustwarze zu sehen ist. Ausgenommen seien allerdings Fotos von Gemälden und Skulpturen. Weshalb sich Facebook mal wieder entschuldigte.
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Wertvolle Metaebene
Auch das Kunstverständnis des Street-Art-Pioniers Banksy sorgte für Aufsehen. Bei einer Auktion des berühmten "Mädchens mit Ballon" wurde das Kunstwerk nach dem Zuschlag geschreddert. Eine kühne Kunstaktion, urteilte die Presse, die Gewinnerin der Auktion war erst geschockt, dann begeistert von der Metaebene: Der Wert des für 1,18 Millionen Euro erstandenen Werks soll um 50 Prozent gestiegen sein.
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Rückgabe von Raubkunst
Restituieren - und wenn ja, wie viel? Die westlichen Länder tun sich schwer im Umgang mit Raubkunst aus der Kolonialzeit. Frankreichs Präsident Macron zeigte den Weg auf: Erst gab er einen Bericht in Auftrag, dann kündigte er an, in den kommenden fünf Jahren Kunstwerke und Objekte aus französischen Museen an Afrika zurückzugeben. Bereits im Dezember kehrten geraubte Statuen nach Benin zurück.
Bild: Imago/Belga/E. Lalmand
Ein Gruß an den Präsidenten
Dass Hollywood kein Mekka für Trump-Fans ist, war bekannt. So deutlich wie Robert de Niro bei den Tony Awards im Juni war bislang aber noch niemand geworden: "Fuck Trump", begann er seine Rede, die zur Abrechnung mit dem "Dreckskerl" wurde und Standing Ovations erntete. Monate später erhielt der Schauspieler von einem derangierten Trump-Anhänger dafür allerdings auch Post in Form einer Briefbombe.
Bild: Getty Images/AFP/V. Hache
Ziemlich beste Freunde
Apropos Rede: Oprah Winfrey hielt bei den Golden Globes einen beachtlichen Vortrag über Frauenrechte und Rassendiskriminierung, manch einer sah darin eine inoffizielle Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur 2020. Wie doppelzüngig es in Hollywood wohl zugeht, legten bald darauf ältere Fotos nahe, die Winfrey sehr eng und vertraut mit Harvey Weinstein zeigen, dem Auslöser der #MeToo-Bewegung.
Bild: Getty Images/A. E. Rodriguez
#MeToo in Deutschland
Im Januar erreichte #MeToo auch die deutsche Filmszene. Mehrere Frauen beschuldigten den Regisseur Dieter Wedel in der "Zeit" der sexuellen Nötigung, des Machtmissbrauchs und der Vergewaltigung. Das ZDF und die Bavaria Film leiteten interne Untersuchungen ein, fanden jedoch keine Belege für sexuelle Übergriffe. Frühere Mitarbeiter bestätigten, Wedel sei respektlos und cholerisch aufgetreten.
Bild: picture alliance/dpa/U. Zucchi
Kurzes Gastspiel
Der umstrittene Chris Dercon hielt als Intendant der Berliner Volksbühne knapp acht Monate durch. Fazit: Fäkalien vor seiner Bürotür, eine einwöchige Besetzung und anschließende Räumung des klassischen Sprechtheaters, aus dem Dercon laut Kritikern eine "Eventbude" machen wollte. Im April trennten sich die Wege, Dercon wechselt 2019 als Präsident der Vereinigung der Nationalmuseen nach Paris.
Bild: DW/G. Schliess
Fehlendes Gespür II
Das ZDF wollte ein Konzert der Punkband Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus Dessau aufzeichnen. Weil die Musiker streng antifaschistisch sind, kündigten rechtsextreme Gruppen Proteste an. Zu viel für die Direktorin der Bauhaus-Stiftung, die das Konzert erst absagte, dann aber erkennen musste, den Nazis dadurch eine noch breitere Aufmerksamkeit ermöglicht zu haben. Es hagelte Kritik von allen Seiten.
Bild: Bastian Bochinski
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Kunst und Kultur verhandeln gesellschaftliche Entwicklungen. Sie verweisen in die Vergangenheit und reichen in die Zukunft. Sie können die Realität aufreißen, zerlegen und codiert neu zusammensetzen, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.
Kunst und Kultur sind in der Geschichte von einem politisch aufgewühlten Klima nie unberührt geblieben. Das Jahr 2018 hat einmal mehr verdeutlicht, wie sehr die Kultur dort unter Druck gerät, wo freie Demokratien gefährdet sind - insbesondere in ihrer Funktion als Gegengewicht.
Kultur unter staatlicher Kontrolle
In den USA verbot Präsident Donald Trump Journalisten das Wort; in Polen drängt die Regierung kritische Kulturschaffende aus ihren Positionen, um diese mit genehmeren Leuten zu besetzen; die ungarische Presse ist auf Regierungslinie getrimmt; in Russland kündigte Präsident Wladimir Putin zum Jahresende an, Rapmusik unter staatliche Kontrolle zu stellen.
Wer die bloße Machtfülle großer Internetkonzerne allein schon skeptisch beäugt, zuckt wohl erst recht beim Szenario zusammen, das die Zusammenarbeit dieser Unternehmen mit der Politik skizziert. Was ist, wenn Plattformen wie Facebook Regierungskritikern nicht mehr als Tor zur Welt dienen, sondern sich deren Zensur und Verfolgung anschließen? Dass die Grenzen zwischen Freiheit und Zensur bei dem sozialen Netzwerk fließend sind, zeigte 2018 die anhaltende Löschung von Bildern, auf denen Kunstwerke mit Nackten abgebildet waren.
Schnelllebigkeit spitzt Diskurse zu
Hinzu kommt ein Medienbetrieb, dessen Schnelllebigkeit die gesellschaftlichen Diskurse eher zuspitzt als sie zu entschleunigen. So geschehen, als in der #MeToo-Debatte herauskam, dass Asia Argento, bis dato führende Protagonistin der Bewegung, vor Jahren selbst einen Jugendlichen sexuell bedrängt haben und später Schweigegeld gezahlt haben soll.
Prompt wurden die Aussagen Argentos, sie sei von Filmmogul Harvey Weinstein missbraucht worden, in Zweifel gezogen. Dabei zeigten sich lediglich zwei Seiten derselben Medaille: Nur, weil die eine richtig ist, muss die andere nicht falsch sein.
Zuspitzung und Vereinfachung - es sieht nicht danach aus, als würde 2019 ein ruhigeres Jahr werden. Die Kultur muss sich der Bedrohungen erwehren. Unsere Kulturaufreger des Jahres 2018 finden Sie in unserer Bildergalerie.