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Politik

"Unsere Stadt ist auch missbraucht worden"

3. Juni 2018

Seit dem Brandanschlag 1993 gilt Solingen als Symbol für Fremdenhass in Deutschland. Im "Interview der Woche" spricht Oberbürgermeister Tim Kurzbach darüber, wie er das Verbrechen und seine Nachwirkungen erlebte.

Tim Kurzbach Oberbürgermeister Solingen
Bild: imago/Deutzmann

Das Foto von dem ausgebrannten Altbau mit dem freiliegenden Dachstuhl, zumindest in Deutschland ist es eine Art Symbolbild für mörderischen Fremdenhass. Vier Rechtsextremisten hatten in der Nacht auf den 29. Mai 1993 das Wohnhaus der türkischen Familie Genç in der Unteren Wernerstraße  81 in Solingen mit Benzin und Zeitungspapier in Brand gesteckt. Die Attentäter töteten fünf Menschen - drei Mädchen und zwei junge Frauen - und verletzten 17 weitere Personen, einige von ihnen schwer.

Tim Kurzbach hat die Brandruine damals mit eigenen Augen gesehen: "Ich war fünfzehn Jahre alt und bin mit meinen Eltern direkt an dem Tag hingegangen", berichtet Kurzbach im "Interview der Woche" der DW. "Dieses Bild hat sich sehr, sehr tief in meine Gedanken und in mein Fühlen hineingegraben."

Das Erlebnis, sagt er, seien für ihn richtungsweisend gewesen: "Ich engagierte mich schon damals in der Schülervertretung, aber in dem Moment habe ich gedacht: Du musst etwas verändern." Das tat er - zunächst im Bund der Deutschen Katholischen Jugend, mit 23 Jahren trat er in die SPD ein. Seit 2015 ist Kurzbach Oberbürgermeister seiner Heimatstadt.

Der Brandanschlag sei aber nicht nur für ihn eine Zäsur gewesen, sondern auch für die "Klingenstadt". "Die Solinger konnten das nicht fassen, und bis heute ist es eine unfassbare Tat", sagt Kurzbach. "Für die Solinger ist aber genauso unfassbar und schwer gewesen, was in den Tagen danach passiert ist."

"Unsere Stadt ist auch missbraucht worden"

In vielen deutschen Städten formierten sich Kundgebungen gegen die Tat, so auch in Solingen selbst. Daneben aber randalierten in der Innenstadt türkische Nationalisten und gerieten mit Autonomen aneinander. Viele waren - offenbar aufgestachelt von den türkischen Rechtsextremisten der "Grauen Wölfe" - von außerhalb gekommen. "Unsere Stadt ist auch missbraucht worden", sagt Kurzbach. "Ich glaube, es war der Wille, es jetzt auch mal den Deutschen zu zeigen."

Das ausgebrannte Haus der Familie Genç in Solingen nach dem tödlichen BrandanschlagBild: Imago/Tillmann Pressephotos

Dem Anschlag in Solingen war Anfang der 1990er Jahre eine ganze Reihe fremdenfeindlicher Verbrechen vorangegangen: Im Herbst 1991 hatten Rechtsradikale unter dem Applaus von Passanten zwei Ausländerwohnheime im sächsischen Hoyerswerda mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen. Ein Jahr später bildete die pogromähnliche Belagerung eines Wohnheims ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter der DDR in Rostock-Lichtenhagen den Auftakt zu einer Serie ähnlicher Taten in weiteren Orten Mecklenburg-Vorpommerns.

Im November 1992 steckten Neonazis im schleswig-holsteinischen Mölln zwei Wohnhäuser türkischer Familien in Brand und töteten dadurch zwei Kinder und deren Großmutter.

Parallelen zur Gegenwart

Der Fünffachmord in Solingen bildete den traurigen Tiefpunkt einer Zeit, in der Deutschland intensiv über Asylrecht und Migranten debattierte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach angesichts wachsender Zuwanderung von einem drohenden "Staatsnotstand".

Die Vorfälle von Rostock und Hoyerswerda spielten Regierungsvertreter herunter. Statt die Neonazis von ihren Pogromen abzuhalten, schob der bundesdeutsche Staat einen großen Teil der von ihnen bedrohten Migranten ab. Drei Tage vor dem Attentat in Solingen verschärfte der Bundestag per Gesetz das Asylrecht in Deutschland.

Ein Gedenkstein und fünf Kastanienbäume erinnern heute in der Unteren Wernerstraße 81 an die fünf ErmordetenBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Heute ist es vor allem die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD), die von Notständen durch Masseneinwanderung spricht. Aber nicht nur am rechten Rand des Bundestages betonen Politiker die Probleme, die der wachsende Migrantenanteil in Deutschland mit sich bringt: "Die Flüchtlingsherausforderung des Jahres 2015 hat die ganze deutsche Gesellschaft vor eine Herausforderung gestellt", sagt auch SPD-Mann Kurzbach.

"Wir sind sensibler als andere"

In Solingen hat heute jeder dritte Schüler einen Migrationshintergrund, und die AfD hat dort bei der Bundestagswahl 2017 fast zehn Prozent bekommen. Doch Kurzbach wehrt sich gegen das Image, das Solingen seit 1993 irgendwie anhaftet. Es könnte eine rechte Hochburg sein.

Schon damals in den unruhigen Tagen nach dem Brandanschlag, hätten sich die Solinger Bürger selbst Solidaritätsaktionen geschaffen, erzählt Kurzbach: "Menschen haben bei besorgten Migranten übernachtet." Und auch nach der Einwanderungswelle 2015 hätten sie seinen Ansatz, die Flüchtlinge in private Wohnungen statt in Sammelunterkünfte zu bringen unterstützt: "Hätten wir nicht dieses großartige Engagement in Solingen gehabt, wir hätten es als Stadtverwaltung alleine niemals geschafft", sagt Kurzbach im "Interview der Woche": "Wir sind sensibler als andere, wir sind aktiver in der Integrationsarbeit."

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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