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Lammert: "Griechenland hat durch EU-Mitgliedschaft gewonnen"

Irene Anastassopoulou22. Mai 2014

Vor der Europawahl spricht Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im DW-Interview über die Europa-Müdigkeit vieler Wähler, die Arbeitslosigkeit in EU-Krisenländern und die Ukraine-Krise.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Werden Sie am Montag nach der Europawahl dem Spitzenkandidaten der Partei mit den meisten Stimmen auch eine Glückwunsch-Nachricht für den Posten des Kommissionspräsidenten schicken?

Norbert Lammert: Zunächst warten wir das Wahlergebnis ab. Denn da unterscheiden sich die Europawahlen nicht von nationalen Wahlen. Wir wissen erst nach den abgegebenen Stimmen, ob es die erforderlichen Mehrheiten gibt - und wenn ja, für wen, gegebenenfalls mit welchen notwendigen Koalitionen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, es werde keinen Automatismus geben, dass der Spitzenkandidat der Partei mit den meisten Stimmen zugleich EU-Kommissionspräsident wird.

Es gibt eine klare Rechtslage und Verfahrensvereinbarung: Danach machen die Staats- und Regierungschefs dem Europäischen Parlament einen Vorschlag für die Wahl des Kommissionspräsidenten. Sie werden weder einen Vorschlag machen wollen, der keine Aussicht auf Mehrheit im Europäischen Parlament hat, noch werden sie ihn unabhängig vom Ausgang der Wahlen machen können.

Gerade in den Krisenländern in der EU gibt es eine zunehmende Europa-Müdigkeit, viele Menschen meinen, ihre Stimme werde ohnehin nicht gehört. Können Sie das nachvollziehen?

Nachvollziehen kann man fast alle Empfindungen oder Stimmungen oder Besorgnisse. Zutreffend sind sie gleichwohl nicht. Wir haben unterschiedliche Zuständigkeiten, gerade was das Krisenmanagement angeht. Die Bewältigung der Herausforderungen in der Krise der Staatsfinanzen in Griechenland und anderen Ländern findet ja nur zu einem begrenzten Teil auf der Ebene der europäischen Institutionen statt, weil es sich hier nicht um Programme handelt, die im Rahmen der europäischen Verträge vorgesehen sind. Wir haben hier die ganz außergewöhnliche Situation, dass die europäischen Verträge solche Hilfsprogramme ausdrücklich nicht vorsehen, also gar kein Anspruch auf solche Unterstützung besteht, die Mitgliedsstaaten aber aus guten Gründen freiwillig vereinbart haben, solche Hilfsprogramme dennoch möglich zu machen. Dafür sind dann wiederum besondere vertragliche Vereinbarungen getroffen worden, für deren Umsetzung auf der einen Seite das jeweilige nationale Parlament verantwortlich ist oder die beiden nationalen Parlamente, in diesem Fall das griechische Parlament wie das deutsche Parlament, und auf der anderen Seit die jeweiligen Regierungen.

Doch diese Hilfsprogramme haben Griechenland in eine soziale Krise gestürzt. Warum sollen zum Beispiel junge Leute in Griechenland, wo es eine Jugendarbeitslosigkeit von 26 Prozent gibt, am Sonntag für ein Europa wählen gehen, in dem insgesamt um die 26 Millionen Menschen arbeitslos sind?

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und in anderen südeuropäischen Ländern ist nicht erst in Folge der Finanzkrise zu beobachten. Die Gründe müssen also anderswo gesucht werden. Sie haben zu tun mit den höchst unterschiedlichen Bildungssystemen, und sie haben etwas zu tun mit der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und den sich daraus ergebenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Und deswegen: So schmerzhaft und schwierig die Anpassungsprozesse auch sind - das griechische Parlament weiß, warum es diesen Programmen zugestimmt hat. Weil es nämlich keinen Weg an der Notwendigkeit vorbei gibt, die Leistungsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft zu verbessern und damit die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.

Bei der Bewältigung der Ukraine-Krise wirkt die EU eher schwach - auch ein paar Tage vor der Europawahl.

Niemand aus der europäischen Gemeinschaft hat sich die Entwicklung in der Ukraine gewünscht, schon gar nicht die Entwicklung, die dann auf der Krim stattgefunden hat, die Vorgehensweise Russlands gegenüber dem Nachbarland. Aber man muss sich mit den Fragen auseinandersetzen, die aktuell und akut geworden sind, unabhängig davon, ob man sie für erfreulich oder unerfreulich hält. Ich finde das Bemühen der Europäischen Gemeinschaft beachtlich, sich in dieser Krise mit Kräften um Lösungen zu bemühen, die den legitimen Interessen aller Beteiligten möglichst nahe kommen. Dabei ist es eine unvermeidliche Erschwernis auf europäischer Seite, dass nicht ein Staats- und Regierungschef für alle Europäer sprechen und handeln kann, sondern dass wir 28 Regierungen mit 28 Parlamenten haben, bei denen es gelegentlich auch unterschiedliche Auffassungen über die Vorgehensweise mit Blick auf die Ukraine gibt.

Was ist jetzt Ihre Botschaft an die Euro-Skeptiker unter den Wählern - gerade in Krisenländern wie Griechenland?

Griechenland gehört zu den Ländern, die wie manche andere auch durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft erheblich an wirtschaftlicher Entwicklungsperspektive gewonnen haben. Jeder mag die Zahlen und die Daten, die es vor der Mitgliedschaft Griechenlands in der Europäischen Gemeinschaft gegeben hat, mit den Zahlen und Daten von heute vergleichen. Europa verdankt Griechenland viel. Wir würden über das Europa, mit dem wir heute zu tun haben, nicht einmal nachdenken, wenn es nicht den großen Beitrag Griechenlands zum Selbstverständnis, zur Geschichte, zur Kultur dieses Kontinents gegeben hätte. Aber umgekehrt hat Griechenland auch von der Solidarität und von der Unterstützung seiner Nachbarstaaten und der Mitgliedsstaaten in der Europäischen Gemeinschaft profitiert. Es zeichnet diese Gemeinschaft aus, dass es hier keine einseitigen Zuständigkeiten oder gar Abhängigkeiten gibt, sondern dass alles und jedes, was in dieser Gemeinschaft stattfindet, miteinander verhandelt und vereinbart wird, dass es der Zustimmung von gewählten Parlamenten bedarf, und dass dann allerdings alle Beteiligten sich darauf verlassen können müssen, dass getroffene Vereinbarungen auch umgesetzt werden.

Norbert Lammert (CDU) ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.

Das Gespräch führte Irene Anastassopoulou.

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