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PolitikItalien

Lampedusa am Limit: Wohin gehen die Migranten?

14. September 2023

Nur eine Minderheit der auf Lampedusa angekommenen Geflüchteten will in Italien bleiben. Die meisten hoffen auf bessere Lebenschancen im Norden Europas. Die EU-Asylregeln erweisen sich in der Krise als überholt.

Afrikanische Migranten klettern über den Zaun einer Erstaufnahmeeinrichtung auf Lampedusa
Das einzigen Aufnahmezentrum für Migranten auf Lampedusa ist derzeit völlig überfüllt: Knapp 6800 Migranten befinden sich auf der Insel - die meisten in dem Camp.Bild: Yara Nardi/REUTERS

Nach der Ankunft von über 6750 Geflüchteten in den letzten Tagen auf Lampedusa haben die italienische Küstenwache und das Innenministerium in Rom angekündigt, die Menschen zügig aus den überfüllten Lagern nach Sizilien oder aufs Festland zu bringen.

Die Präfektur von Sizilien teilte mit, dass eine Fähre mit einer Kapazität von 700 Personen unterwegs sei. 180 Personen sollen mit Flugzeugen ausgeflogen werden, die die UN-Agentur IOM organisiert hat.

Mit Fähren werden die Migranten aufs Festland gebracht. Von dort aus wollen die meisten weiter nach Norden. Bild: Elio Desiderio/ANSA via ZUMA Press/picture alliance

"Apokalyptische Zustände"

Das Rote Kreuz Italiens, dass das reguläre Aufnahmelager, den so genannten Hotspot, auf Lampedusa betreibt, gab auf seiner Webseite an, dass die Lage sehr angespannt sei und man alles Mögliche versuche, um wenigstens eine Grundversorgung zu gewährleisten.

Der Pfarrer von Lampedusa, Don Carmelo Rizzo, sagte der Nachrichtenagentur Ansa, dass auch die Wasserversorgung zum Problem werden könne. "Es herrschen apokalyptische Zustände", so Rizzo.

Das Rote Kreuz zielt darauf ab, ankommende Geflüchteten möglichst noch am Tag ihrer Ankunft weiter auf das Festland zu transferieren. Da der Hotspot im Landesinnern Lampedusas nur eine maximale Kapazität von 450 Personen hat, ist er völlig überlastet.

Die Folge: Die Geflüchteten lagern im Hafengebiet auf Molen und Kaimauern. Dort kam es am Mittwoch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, weil die Angekommenen gegen die schlechte Versorgung protestierten. Tags zuvor war ein Säugling in das Hafenbecken gefallen und ertrunken.

Zahl der Überfahrten aus Tunesien steigt

Italienische Medien berichten, dass vor Lampedusa noch weitere Boote mit Geflüchteten auf Ausschiffung warten. Die italienische Küstenwache erklärte, der große Andrang sei derzeit wohl auf eine Art Rückstau im tunesischen Hafen Sfax zurückzuführen, denn wegen des schlechten Wetters hätten tagelang keine Schmuggler-Boote ablegen können. Das sei seit Anfang der Woche anders.

Auf Sizilien und dem italienischen Festland werden die Migranten aus Lampedusa in Aufnahmeeinrichtungen, den "Hotspots", untergebracht und sollen dort auch registriert werden. Die italienischen Behörden werden dabei von Personal der EU-Asylagentur EASO und der Grenzschutzbehörde Frontex unterstützt.

Von den rund 120.000 Menschen, die in diesem Jahr nach Angaben des Innenministeriums in Rom in Italien angekommen sein sollen, hat sich nur eine Minderheit per Fingerabdruck registrieren lassen, noch weniger stellen einen Asylantrag in Italien.

Die meisten wollen weiter nach Norden, nach Frankreich, Österreich oder Deutschland reisen. Die Aufnahmeeinrichtungen sind keine geschlossenen Lager. Die Migranten können sie auf eigene Faust verlassen.

Die Nichtregierungsorganisation "Baobab Experience" geht zum Beispiel davon aus, dass viele Menschen nur einige Tage in Italien verweilen und dann per Bus oder Bahn mit oder ohne Schlepper nach Norden weiterziehen.

Überfülltes Camp auf Lampedusa: Schlaglicht auf europäische MigrationspolitikBild: Elio Desiderio/ANSA/picture alliance

Nachbarländer verstärken Grenzkontrollen

Frankreich hat deshalb seine bereits seit Jahren bestehenden Grenzkontrollen zu Italien noch einmal verstärkt. Auch Österreich kontrolliert seine südliche Grenze zu Italien. Deutschland wiederum richtete Grenzkontrollen zwischen Bayern und Österreich ein. 

Der Effekt dieser Kontrollen sei aber gering, meint der Migrationsforscher Gerald Knaus. Wer einmal im Schengenraum, also innerhalb der Europäischen Union ohne systematische Grenzkontrollen, angekommen sei, habe gute Chancen, irgendwann auch nach Deutschland zu gelangen.

Deutschland ist, gemessen an den absoluten Zahlen das Hauptzielland für Asylsuchende in der EU, obwohl es keine EU-Außengrenzen (außer an Flughäfen) besitzt. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden in diesem Jahr bis August 220.000 neue Asylanträge gestellt.

Abgelehnte Asylbewerber werden selten aus Deutschland abgeschoben. Zum Vergleich: In Italien wurden im gleichen Zeitraum geschätzt 64.000 Asylanträge gestellt.

Hohe Anzahl von Opfern auf den Migrationsrouten nach Europa

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Italien ignoriert EU-Asylregeln

Deutschland und Frankreich haben die freiwillige Übernahme von Flüchtlingen aus Italien vor einigen Tagen völlig eingestellt. 2022 waren Italien noch 3500 Menschen von anderen EU-Staaten abgenommen worden. Rund 1000 davon kamen von Italien nach Deutschland.

Italiens Innenminister Matteo Piantedosi reagierte gelassen auf den Übernahmestopp. Dieser sei ohnehin keine große Hilfe gewesen. Er bestätigte, dass Italien sich nicht mehr an die "Dublin-Regel" halte. Nach dieser EU-Asylverfahrensregel müsste Italien Geflüchtete, die zuerst in Italien angekommen sind und dann nach Deutschland weiterreisen, als Land der Ersteinreise wieder zurücknehmen.

"Wir akzeptieren aufgrund des außergewöhnlichen Zustroms, mit dem Italien seit Monaten konfrontiert ist, keine Rückübernahmen von Migranten aus anderen Ländern mehr", erklärte der Innenminister in Rom.

"Es muss Mechanismus der Solidarität geben" 

UN-Generalsekretär Antonio Guterrez appellierte deshalb erneut an die Solidarität der EU-Länder: "Die Anstrengungen können nicht nur von den Ländern der ersten Einreise unternommen werden, sondern müssen mit anderen Ländern geteilt werden", erklärte er.

"Das ist ein Problem der EU. Es muss einen Mechanismus für Solidarität geben. Der Zustrom schließt Menschen ein, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Unter Beachtung der Menschenrechte muss es möglich sein, jene zu identifizieren, die einen Status als Flüchtling verdienen", sagte Guterrez am Mittwoch.

Am 16. Juli besuchte Italiens Ministerpräsidentin Meloni Tunesiens Präsident Kais Saied. Gesprächsthema Nummer eins: MigrationBild: Tunisian Presidency/APA Images via ZUMA Press Wire/picture alliance

Nach jahrelangen zähen Verhandlungen sind die EU-Innenminister kurz davor, einen neuen Pakt für Migration zu schließen, der beschleunigte Grenzverfahren mit schneller Abschiebung von Wirtschaftsmigranten vorsieht. Zum ersten Mal soll es auch eine begrenzte Verteilung von Asylbewerbern auf alle EU-Staaten geben.

Doch Polen und Ungarn lehnen den Solidaritätsmechanismus kategorisch ab. Italiens rechte Regierung hingegen drängt auf die Umsetzung. Denn dadurch, so Innenminister Piantedosi, würde die Verantwortung der Länder an den Außengrenzen auf die gesamte EU übertragen.

Am 28. September wollen die Innenminister in Brüssel erneut über den Migrationspakt beraten. Bis er in Kraft tritt und vor Ort Wirkung zeitigt, können aber noch Jahre vergehen, meinen Migrationsexperten wie der Soziologe Gerald Knaus.

Tunesien reagiert noch nicht

Wenig Wirkung zeigt auch eine Vereinbarung zwischen der EU und Tunesien, die vor zwei Monaten angekündigt worden war. Mit einer Milliarde Euro will die EU dem tunesischen Regime unter die Arme greifen. Im Gegenzug wird die Einschränkung der Flucht- und Migrationsbewegungen erwartet.

Im Moment ist eher das Gegenteil der Fall, kritisiert der niederländische Europaabgeordnete Jeroen Lenaers. Die Zahlen der Flüchtlinge und Migranten steigen, vor Ort in Tunesien habe sich nichts geändert.

Aus der EU-Kommission heißt es dazu, das Ganze sei ja auch erst ein Memorandum of Understanding, also noch kein rechtlich wirksames Abkommen. Präsident Kais Saied hatte wiederholt erklärt, er werde nicht Grenzpolizei für Europa spielen. Die flüchtenden Menschen sollten nicht dauerhaft in Tunesien bleiben.

Meloni: "Ich sehe keine konkreten Antworten"

Das Abkommen mit Tunesien hatte Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zusammen mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgehandelt. Meloni verbuchte die Vereinbarung als persönlichen diplomatischen Erfolg, räumte aber in einer Talkshow des staatlichen Senders RAI am Mittwochabend ein, dass es für die Migrationsfrage keine abschließende Antwort gebe.

"Die Frage der Umsiedlung in andere EU-Staaten ist zweitrangig. Sehr wenige Menschen sind tatsächlich aus Italien umgesiedelt worden in den letzten Monaten. Das ist nur eine beruhigende Schmusedecke. Die Frage ist nicht, wie verteilen wir? Die Frage ist, wie stoppen wir die Ankünfte in Italien, und dafür sehe ich immer noch keine konkreten Antworten", sagte Meloni der RAI.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union