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Politik

Die Palästinenser und 70 Jahre Israel

16. Mai 2018

Die Palästinenser haben die Staatsgründung Israels im Spiegel ihrer eigenen Vertreibung erlebt. Diese riss Wunden, die bis heute offen sind. Doch die Diskussion, wie mit der Tragödie umzugehen sei, ist in vollem Gange.

Nakba - Die Katastrophe
Palästinenser auf der Flucht, 1948

Immerhin: "Wir haben ein Land aus Worten". Zumindest dieses Land haben wir, schrieb der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch (1941 - 2008). Ein Land aus Worten: In einer einzigen Zeile umreißt Darwisch die jüngere Geschichte der Palästinenser - eine Geschichte, die sich seit der Staatsgründung Israels als außergewöhnlich schwierig erweist, die man vielleicht sogar als Tragödie bezeichnen kann. Aber eben nicht nur. Denn das von Darwisch umschriebene "Land der Worte" ist durchaus nicht ohne Verheißungen - allerdings sind es alles andere als gewöhnliche, alles andere als einfach zu erlangende Verheißungen.

"Wir reisen wie alle Leute, aber kehren nirgendwohin zurück", schrieb Darwisch in seinem Gedicht. "Wir reisen in den Planwagen der Psalmen, wir schlafen im Zelt der Propheten, wir schlüpfen aus dem Wort der Vagabunden."

Die Botschaft war klar: Nach dem Aufbruch aus der alten Heimat 1948 haben die Palästinenser im Grunde nur noch eine Heimat: die Sprache und im weiteren Sinne die Kultur. Sie tragen ihre Erinnerungen mit sich herum - im "Planwagen der Psalmen" - und sind gezwungen, ihre Heimat ganz neu zu definieren.

"Keine Identität im Stein"

Das aber, deutet Darwisch immer wieder an, geht nur über die Sprache. "Archäologie hab' ich studiert, doch fand ich keine Identität im Stein", heißt es in einem anderen Gedicht, und auch hier ist die Botschaft klar: Auf die Beschwörung der Vergangenheit werden die Palästinenser ihre Identität nach der Vertreibung nicht mehr gründen können. Es bedarf anderer Strategien.

Mahmud Darwisch (1941 - 2008): "Wir haben ein Land von Worten"Bild: AP

"Das ist freilich anspruchsvolles Programm. Auf den im November 1947 von der UN-Generalversammlung erklärten Teilungsplan des bisher britischen Mandatsgebiets Palästina, den sie ablehnten, reagierten die Araber mit Gewalt. Bald darauf griffen mehrere arabische Staaten Israel militärisch an. Nach Abschluss der Kämpfe durch den Waffenstillstand im Juli 1949 zogen die Palästinenser Bilanz: Sie hatten über 400 Dörfer verlassen müssen, die größtenteils zerstört und unbewohnbar gemacht worden waren. Diesen Verlust bezeichnen die Palästinenser bis heute als "Nakba", als Katastrophe.

Von den rund 1,4 Millionen Arabern, die in dem ehemaligen Mandatsgebiet gelebt hatten, hatten  über 700.000 ihre Heimat verlassen. Von den heute knapp 13 Millionen Palästinensern lebt - der palästinensischen Statistikbehörde zufolge - die eine Hälfte in den Autonomiegebieten, die andere in der globalen Diaspora.

Heimat als Mythos

Was heißt es, ohne einen eigenen Staat zu leben? Es heiße ganz wesentlich, eine fast mythische Verbindung zum Herkunftsort der Eltern, Groß- oder gar Urgroßeltern zu haben, schrieb der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said (1935-2003), auch er ein Exilant.

Edward Wadie Said (1935-2003): "Kollektives Trauma"Bild: picture-alliance/CPA Media Co. Ltd/Pictures From History

"Palästinensische Kinder, die heute in Orten wie New York oder Amman geboren werden, sagen von sich selbst, sie stammten aus einem Dorf wie Shafa Amr, aus Jerusalem oder Tiberias. Diese Bedeutungen haben keinerlei Sinn außer dem, dass sie sich auf eine paradoxe palästinensische Präsenz beziehen, die sich aller Logik von Geschichte und Geographie widersetzt." Was für viele Palästinenser zähle, so umreißt es Edward Said in seinem Buch "The Question of Palestine", sei der symbolische Bezug: "Der Junge oder das Mädchen wäre dort geboren worden, wäre er oder sie dort vor dem Jahr 1948 zur Welt gekommen."

Die Palästinenser litten an der Besatzung, bestätigt die Politikerin Hanan Ashrawi. "Und wenn man leidet, wenn man an einem kollektiven Trauma teilhat, dann hält man sich an allem fest, auch wenn es nicht unbedingt vernünftig oder verantwortlich ist."

"Eine schizophrene Veranstaltung"

Der Verlust der ehemaligen Heimat ist nicht leicht zu verkraften, so sieht es auch der palästinensische Essayist Elias Sanbar. Nach der Staatsgründung Israels floh er mit seinen Eltern zunächst in den Libanon. Dann siedelte er nach Paris über, wo er seit Jahrzehnten lebt.

Zumindest diejenigen Palästinenser, die ins Ausland geflohen seien, hätten sich einen Teil ihrer Heimat bewahren können, schreibt er in seinem Buch "Figures du Palestinien". "Vertrieben, ausgewandert, verstreut und ihrer Rechte beraubt, haben sich die im Ausland lebenden Palästinenser zumindest ihre Sprache erhalten. Sie sind im Exil, aber keine Fremden. Kulturell, historisch wie auch im eigenen Selbstverständnis sehen sie sich als Fortsetzung der palästinensischen Heimat."

Arabische Kämpfer 1947

Darin, so Sanbar weiter, unterschieden sie sich von jenen Palästinensern, die heute auf israelischem Staatsgebiet lebten. Sie erlebten den Verlust der ehemaligen Heimat Tag für Tag - indem sie in eben jenem Land lebten, das diese Heimat absorbiert hätte. Ihre Alltagskultur sei untergegangen, nun versuchten sie, diese künstliche wiederzubeleben. Das geschehe ganz wesentlich über Folklore und Traditionspflege. "Doch Folklore findet man auf der ganzen Welt normalerweise in den Städten. Auf dem Land aber wird sie zu einer geradezu schizophrenen Veranstaltung: Man inszeniert die eigene Existenz - als verlorene Existenz."

Die Beschwörung der Vergangenheit, deutet Sanbar an, führe nicht nur zu nichts, sie sei im Gegenteil sogar schädlich. Denn sie entfremde die Palästinenser nur noch weiter von ihrer Vergangenheit.

"Der Weg der Wolken"

Gegen den Verlust der Heimat haben die Palästinenser politisch, aber auch mit den Mitteln des Terrors gekämpft. Sie tun das bis heute, sei es, wie etwa die Fatah, auf säkularer Grundlage, oder, wie die Hamas, unter islamistischen Vorzeichen. Nennenswerte Erfolge verzeichnen beide Bewegungen nicht. Der fortschreitende Siedlungsbau lässt die Chance einer Zweistaatenlösung zudem kontinuierlich schwinden.

Ob man sich von der Idee der Rückkehr in die verlorene Heimat verabschieden muss? Zumindest in absehbarer Zeit scheint das Drama der Vertreibung nur kulturell zu bewältigen zu sein - so hat es der Dichter Mahmud Darwisch immer wieder angedeutet.

Der Verlust der Heimat sei endgültig - damit gelte es sich abzufinden. Die einzige Form, diesen Verlust zu bewältigen,  bestehe darin, ihn anzunehmen, darauf zu verzichten, die verlorene Heimat rituell zu beschwören - und damit im Gefühl des Verlusts zu verharren. Stattdessen, empfiehlt er, gelte es in die Zukunft zu schauen - eine offene Zukunft, die vieles verheißt, nur nicht den Weg zurück zum Ursprung. "Wir verreisen wie Menschen, doch kehren zu nichts zurück / als ob die Reise der Weg der Wolken wäre."

Der Artikel wurde am 17./18.12. 2021 überarbeitet und an einigen Stellen präzisiert, missverständliche oder fehlerhafte Formulierungen wurden korrigiert.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika