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Politik

Langsame Hilfe für Helfer in Afghanistan

6. August 2021

Viele ehemalige Helfer der Bundeswehr in Afghanistan können bisher nicht nach Deutschland reisen. Angesichts des Vorrückens der Taliban wird die Zeit zu ihrer Evakuierung knapp.

Afghanistan Char Darreh | Bundeswehrsoldat und Dolmetscher in der nähe von Kundus  im Gespräch mit einem Mann
Bild: Maurizio Gambarini/dpa/picture alliance

Bis Freitag (6.8.) sind genau 1.362 Afghanen in Sicherheit. Sie waren Ortskräfte in Afghanistan, die für die deutsche Bundeswehr und Polizei gearbeitet hatten. Mit ihren Familien kamen sie in den vergangenen Wochen in Deutschland an. Die Bundesregierung hat die Aufnahme der Ortskräfte zugesagt, denn in Afghanistan hätte ihnen Gefahr durch die militant-islamistischen Taliban gedroht, die die ehemaligen von westlichen Institutionen beschäftigten Mitarbeiter als "Verräter" sehen.

Inzwischen, so teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes diese Woche in Berlin mit, sei über die Hälfte der Berechtigten eingereist. Bislang habe das Amt rund 2.400 Visa ausgestellt. Doch rund tausend weitere Berechtigte und ihre Angehörigen halten sich derzeit noch in Afghanistan auf. Für sie gebe es in Kabul eine Anlaufstelle im Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die auch per Mail oder Telefon erreichbar sei. Die Visastelle der Botschaft Kabul bleibt aufgrund schlechter Sicherheitslage bis auf Weiteres geschlossen.

Visaprozess dauert drei Monate

Für Marcus Grotian, den ersten Vorsitzenden des Vereins "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte", sind diese Nachrichten allerdings nur bedingt erfreulich. "In Kabul warten weitere Ortskräfte auf die Einreise nach Deutschland", sagt Grotian im DW-Gespräch. Ihre Hoffnung schwinde aber von Tag zu Tag. Seit zwei Monaten habe kein einziger neuer Visaprozess begonnen. "Bedenkt man, dass ein solcher Prozess in der Regel drei, unter beschleunigten Umständen vielleicht zwei Monate dauert, wird die verzweifelte Lage vieler Menschen klar", so der Hauptmann bei der Bundeswehr weiter.

Zwar gibt es in Kabul inzwischen das Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) als Anlaufstelle für Schutzsuchende, aber dort werden lediglich die Formulare angenommen, sagt Grotian. Bislang sei noch kein einziger Visaprozess in Gang gesetzt worden. "Und bis die Bearbeitung dann abgeschlossen ist, dürften die Taliban aller Voraussicht nach noch weiter fortgeschritten sein. Damit wird die Lage für die Ortskräfte immer bedrohlicher." Insgesamt, so Grotian, warteten 2000 berechtigte Personen auf den Beginn ihres Visa-Prozesses."

Taliban erobern Großteile Afghanistans

Derweil schreiten die Taliban in Afghanistan immer weiter voran. Dem Magazin "Long War Journal" zufolge beherrschen sie Ende Juli dieses Jahres 223 der insgesamt 407 Landesdistrikte. Unter der Kontrolle der Regierung verblieben bis dahin 74 Distrikte, während 110 als umkämpft galten.

Wozu die Taliban im Lande jetzt fähig sind, zeigte sich am Dienstag (3.8), als das sogenannte "Märtyrer-Bataillon" der radikalislamistischen Organisation das Gästehaus des Verteidigungsministers Bismillah Mohammedi im Zentrum Kabuls angriff. Dabei starben 13 Menschen, über 20 Menschen wurden verletzt. Mohammedi, der unverletzt blieb, war erst im Juni zum Kabinettsmitglied ernannt worden. Sein Vorgänger musste seinen Posten räumen, weil dieser den Vormarsch der Taliban nicht effektiv bekämpfen konnte.

Derweil setzen die Taliban auch ihre Attacken auf hochrangige Regierungsvertreter in Kabul fort. Noch am Freitag (6.8.) wurde der afghanische Regierungssprecher Dawa Khan Menapal beim Freitagsgebet ermordet. Die Taliban bekannten sich zur Tat.

Das rücksichtslose Vorgehen der Talibandokumentiert auch der jüngste Halbjahresbericht der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA). Demnach waren im ersten Halbjahr 2021 von "regierungsfeindlichen Kräften eingesetzte improvisierte Sprengsätze" die Hauptursache für zivile Tote und Verletzte. An zweiter Stelle stehen die "Bodenkämpfe", gefolgt von "gezielten Tötungen durch regierungsfeindliche Kräfte".

(Archiv) Übersetzer (2.v. r.) für die Bundeswehr im EinsatzBild: picture-alliance/dpa

Helfer bis 2018 unberücksichtigt

Für die Helfer spitzt sich die Bedrohungslage dramatisch zu. Dies gilt insbesondere für jene rund 350 Personen, die zwischen 2013 und 2019 für die Bundeswehr gearbeitet hatten. "Von ihnen hat noch niemand ein Visum", sagt der Grünen-Verteidigungspolitiker Winfried Nachtwei, Mitglied des Deutschen Bundestags von 1994 bis 2009. Zwar hätten auch sie inzwischen erste Gefährdungsanzeigen im IMO-Büro in Kabul abgegeben, "aber auch sie stehen vor der Schwierigkeit, dass das Büro offenbar noch nicht arbeitsfähig ist."

Hinzu, sagt Hauptmann Grotian, komme eine weitere Gruppe: "Nämlich die derjenigen Ortskräfte, die bis 2018 für das Auswärtige Amt oder das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gearbeitet hatten." Dabei handelt es sich um circa 2000 Personen, die aufgrund der derzeitigen Auswahlkriterien nicht einreiseberechtigt seien.

Andere Beschäftigte wie etwa Köche, Fahrer oder Handwerker als Subunternehmer könnten ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Das sei aber nötig, sagt Marcus Grotian. "Denn für diese Gruppe ist die Lebensgefahr genauso hoch wie für die direkt beschäftigten Helfer. Die Taliban unterscheiden nicht nach dem Arbeitsvertrag, sondern danach, ob man den westlichen Kräften geholfen hatte."

Ehemalige Mitarbeiter der internationalen Organisationen wie die der NATO gehen vermutlich auch leer aus. Die NATO bitte offiziell zwar um die Aufnahme dieser Kräfte, tue aber nichts darüber hinaus, sagt Nachtwei gegenüber der DW. Im Grundsatz herrsche bei den Entscheidungsträgern in Deutschland die Tendenz vor, die Migration im Kontext der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 möglichst gering zu halten. "Man fürchtet wohl, mit der Aufnahme der Ortskräfte auch Anreize für anderen Gruppen zu schaffen."

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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