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Brasilien setzt auf Kontinuität

29. September 2010

Ein radikaler Umbruch nach dem Ende der Ära Lula ist in Brasilien nicht zu erwarten. Dennoch wecken die Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober sehr konkrete Erwartungen bei den Nachbarn des „südamerikanischen Giganten“.

Wahlkampfveranstaltung mit dem scheidenden Präsidenten Lula und seiner Kandidatin Dilma Rousseff (Foto: AP)
Dilma Rousseff gilt als aussichtsreichte Kandidaten für die Nachfolge von Präsident LulaBild: AP

Brasilien-Kenner sind sich einig darin, dass es ein Glücksfall für das Land war, dass das Präsidentenamt in den letzten 16 Jahren von zwei starken Persönlichkeiten bekleidet worden ist. Glück, weil die Wähler sich nicht immer für den besten Kandidaten entscheiden. Und starke Persönlichkeiten waren sowohl der Soziologe Fernando Henrique Cardoso (1995 – 2003, Sozialdemokratische Partei Brasiliens, PSDB) wie auch sein Nachfolger, der Metallarbeiter und Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011, Arbeiterpartei, PT). Beide haben es verstanden, Regierungsvorhaben durchzusetzen, mit denen sie nicht nur bei ihren Anhängern punkten, sondern auch ihre Gegner überzeugen und sogar die Enttäuschten und Gleichgültigen wieder für Politik interessieren konnten.

Die Kandidatin der regierenden Arbeiterpartei (PT), Dilma Rousseff gilt als mögliche Nachfolgerin von Präsident LulaBild: AP

Entsprechens groß ist der Erwartungsdruck, der auf den Präsidentschaftskandidaten für die Wahl am 3. Oktober lastet. Die Herausforderung besteht dabei nicht darin, einen zündenden Wahlkampf zu führen. Vielmehr steht die Nagelprobe für Lulas Nachfolger erst nach dem Wahlsieg an, wenn der neue Präsident, oder die neue Präsidentin Brasiliens an den Erfolgen der beiden Amtsvorgänger wird messen lassen müssen. Ganz Lateinamerika blickt deshalb in diesen Tagen auf die aussichtsreichsten Kandidaten: Dilma Rousseff, die für die Arbeiterpartei ins Rennen geht; Marina Silva von den Grünen (Partido Verde, PV) und den Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), José Serra.

Aufmerksame Nachbarn

„Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika sind inzwischen von globaler Bedeutung – das ist ein relativ neues Phänomen. Bis vor einigen Jahren wäre es den Nachbarn Brasiliens egal gewesen, wer die Wahl gewinnt, weil die politische Aufmerksamkeit ganz auf die Innenpolitik gerichtet war“, so Detlev Nolte Leiter des GIGA-Instituts für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Mit Blick auf Präsidenten wir Hugo Chávez, Evo Morales und Rafael Correa fügt er hinzu: „Heute ist der politische Diskurs in Lateinamerika stärker ideologisch geprägt und polarisiert daher auch über die Landesgrenzen hinaus.“

José Serra tritt für die Sozialdemokratische Partei Brasiliens anBild: AP

Das rechte Lager in Lateinamerika messe dem Wahlausgang in Brasilien große Bedeutung zu, so Noltes Beobachtung: „Das Ergebnis wird als Weichenstellung für die unmittelbare Zukunft der gesamten Region bewertet. Die lateinamerikanische Rechte befürchtet durch einen Wahlsieg von Dilma Rousseff eine Stärkung der gesamten die lateinamerikanischen Linken. Sollte sich José Serra durchsetzen, erhofft man sich von einer Mitte-rechts-Regierung ein neues Gleichgewicht der Kräfte.“ Unabhängig vom Wahlausgang werde die unter Cardoso und Lula begonnen außenpolitische Öffnung Brasiliens fortgeführt werden, prognostiziert Nolte.

Konkrete Erwartungen

Eine grundlegende Kursänderung in der brasilianischen Staatspolitik sei von keinem der Präsidentschaftskandidaten zu erwarten. „Lulas Außenpolitik hat stets das Ziel verfolgt, Brasilien als Regionalmacht in Lateinamerika zu positionieren, und zwar nicht über den Weg der Durchsetzung eigener Interessen, sondern immer im Dialog mit den Partnern“, so der Leiter des Giga-Instituts für Lateinamerikastudien. Dabei hätten persönliche Sympathien, wie Lula sie seiner argentinische Amtskollegin Cristina Fernández de Kirchner entgegenbringt, oder auch die Antipathie, die er für den früheren kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe hegte, keine Rolle gespielt, betont Nolte.

Marina Silva geht für die Grüne Partei ins Rennen um die PräsidentschaftBild: AP

Auch wenn keines der Nachbarländer einen grundsätzlichen Kurswechsel in der brasilianischen Politik erwarte, so wecken die Wahlen am 3. Oktober doch konkrete Erwartungen jenseits der brasilianischen Grenzen. „Paraguay und Uruguay erwarten, dass Brasilien sich wieder stärker dem MERCOSUR zuwendet. Die kleineren Mitgliedsländer hoffen auf Ausgleichszahlungen aus dem Strukturanpassungsfonds des Mercosur, die ihnen größeren wirtschaftlichen und politischen Handlungsspielraum im Rahmen des Bündnisses ermöglichen sollen“, erläutert Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Interessenkonflikt

„Buenos Aires hat ein großes Interesse daran, dass Brasilien innerhalb des Mercosur nicht zu mächtig wird. Andernfalls sieht Argentinien seine Spielraum bei der Verhandlungen und der Unterzeichnung von internationalen Freihandelsabkommen eingeengt“, so Maihold. Dieser Konflikt sei offen zutage getreten, als die EU eine strategische Partnerschaft mit Brasilien ins Leben gerufen hat, während sie gleichzeitig über ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur weiterverhandelt hat. „Alle Beteiligten wollen die strategische Partnerschaft lediglich als Zusatzabkommen verstanden wisse, aber man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, dass es durchaus zu Interessenkonflikten zwischen beiden Projekten kommen kann“, prognostiziert Maihold. Sollte das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur nicht zustanden kommen, könnte Europa vor allem seine bilateralen Beziehungen zu Brasilien ausbauen, zu Lasten der Beziehungen zu den anderen Ländern des südamerikanischen Staatenbündnisses, Argentinien, Venezuela, Uruguay und Paraguay.

Der scheidende Präsident Lula da Silva hat Brasilien zu einer Regionalmacht in Lateinamerika entwickeltBild: AP

Auch in Ländern, die nicht direkt an Brasilien grenzen blickt man gespannt auf den 3. Oktober. Die Regierung von Honduras beispielsweise strebt nach wir vor die internationale Anerkennung und die Wiederherstellung seiner Vollmitgliedschaft in der Organisation Amerikanischer Staaten an. „Lula hat sich stets geweigert, die Legitimität der honduranischen Regierung anzuerkennen. Die Frage ist ob Brasilien weiter auf seiner politischen Blockadehaltung gegenüber Honduras bestehen wird, oder ob die neue Regierung diese Position aufweicht“, betont Maihold.

Der Persönlichkeitsfaktor

Auch wenn Sympathie oder Antipathie nicht die Beziehungen Lulas zu seinen Amtskollegen in der Region beeinflusst haben, so hat seine Persönlichkeit doch stets eine wichtige Rolle in den interamerikanischen Beziehungen gespielt, vor allem zwischen Brasilien und Venezuela. „Lula hat es durch seine Politik der Umarmung immer geschafft, den venezolanischen Präsident Hugo Chávez in die südamerikanische Staatengemeinschaft zu integrieren. Es wird sich zeigen, ob Dilma Rousseff auch dieses diplomatische Geschick besitzt, beziehungsweise ob Serra überhaupt dazu bereit ist“, gibt Günter Maihold zu bedenken.

Innerhalb des Mercosur ist man darauf bedacht, Brasilien nicht zu einflussreich werden zu lassenBild: AP

„Das relative Gleichgewicht zwischen Venezuela und Brasilien in ihrem regionalen Führungsanspruch wird davon abhängen, wie die neuen brasilianische Regierung ihre außenpolitischen Prioritäten setzt“, so die Diagnose von Günter Maihold. Hofft Chávez möglicherweise auf einen Wahlsieg von Dilma Rousseff, die wesentlich weniger charismatische ist als der scheidende Präsident Lula, um seine eigene Position als internationaler Vertreter für die gesamte Region auszubauen? Maihold hält diese Gedankenspiele für realistisch: „Aber auch wenn Chávez in diesem Sinne auf Dilma setzt, sollte er sie nicht unterschätzen: sie hat Lulas jetzigen Chefberater, Marco Aurelio García zu ihrem persönliche außenpolitischen Berater ernannt.“ Sollte Dilma Rousseff die Wahl am 3. Oktober gewinnen, werde Brasilien die von García konzipierte, sehr dynamische Außenpolitik fortsetzen, schließt Günter Maihold.


Autor: Evan Romero-Castillo
Redaktion: Mirjam Gehrke