Umweltrassismus gegen Roma in Rumänien
1. September 2021Wer mit dem Flugzeug nach Cluj-Napoca in Siebenbürgen reist, sieht sie schon beim Landeanflug auf den Flughafen: die größte Mülldeponie Rumäniens, Pata Rât. Was man jedoch leicht übersieht zwischen den gewaltigen Müllbergen, sind die bunten Dächer einfacher Hütten. In Pata Rât leben und arbeiten Menschen: rund 1500 Roma.
Es herrscht geschäftiges Treiben. Städtische Müllwagen laden hier ihre Fracht ab, dazwischen die Pferdewagen der Müllsammler. Kinder laufen ohne Schuhe zwischen den Hütten umher, um sie herum überall Krähen, die auf den Müllbergen Ausschau nach etwas Essbarem halten.
Pata Rât galt lange auch als die größte Umweltsünde Rumäniens. Jahrzehntelang wurden auf der Deponie unbehandelte Abfälle verklappt, Chemikalien sickerten in den Boden. Es kam zu Bränden, bei denen auch immer wieder Menschen starben.
Die EU drang jedoch auf die Schließung von Pata Rât. 2015 begannen die Aufräumarbeiten. Rund 2,5 Millionen Tonnen Abfall waren in den vergangenen 70 Jahren hier deponiert worden, auf einer Fläche so groß wie 27 Fußballfelder. Die Fläche wurde mit Erde aufgeschüttet. 2019 erklärten die lokalen Behörden Pata Rât offiziell für geschlossen.
Doch für die Roma, die hier leben, geht das Leben in Pata Rât weiter. Denn 2015 wurden neben der alten großen Deponie zwei neue "Zwischenlager" eingerichtet. Jeden Tag wachsen nun hier die Müllberge. Außerdem meinen Experten, dass auch der Müll der alten Deponie nie fachgerecht gelagert wurde.
"Das war keine Deponie, die nach europäischen Standards betrieben wurde", sagt Ciprian-Valentin Nodis, ein rumänischer Forscher und Gründungsmitglied der "Interethnic Association of Dumitrița". "Viele giftige Stoffe gelangten in den Boden und damit in das Grundwasser. Die ganze Gegend ist kontaminiert", erzählt der Aktivist, selbst Roma.
Vertreibung aus der Innenstadt
Die ersten Roma, die in Pata Rât lebten, kamen in den späten 1960er und 1970er Jahren. Die Armut hatte sie hierhergetrieben. Auf der Müllhalde sortierten sie den städtischen Abfall, verdienten sich so ihren Lebensunterhalt. Die meisten Bewohner der Mülldeponie aber wurden in den 2000er-Jahren aus Cluj-Napoca vertrieben. Damals erlebte die Stadt einen regelrechten Immobilienboom. Für die Roma war von da an kein Platz mehr. 2010 hatten die Behörden die letzten 350 Bewohner aus dem Stadtzentrum vertrieben. Sie hatten alle in der Coastei-Straße gewohnt.
Auch Linda Greta Zsiga gehörte zu ihnen. An einem kalten Dezembermorgen wurden sie und ihre Familie von der Polizei und städtischen Beamten geweckt. Die Bulldozer standen schon vor der Tür. Nur zwei Tage zuvor hatten Linda Greta Zsiga und 75 andere Roma-Familien, die in der Straße lebten, einen Räumungsbescheid erhalten. Ihr neues, zugewiesenes Zuhause war ein Komplex aus kleinen Fertig-Modulen, gleich bei den Hütten der anderen Roma vor den Toren der Stadt, in Pata Rât.
Linda Greta Zsiga erzählt, dass die Roma in der Coastei-Straße gut integriert waren. Sie lebten teilweise seit Generationen dort, zahlten regelmäßig ihre Miete und den Strom. Die Häuser gehörten der Stadt. Die Kinder besuchten die öffentlichen Schulen und die städtischen Kindergärten des Viertels. Doch dann kam die Abschiebung aus der Stadt auf die Mülldeponie. "Für sie sind wir Müll, keine Menschen", sagt Linda Greta Zsiga, "sie meinten, wir hätten es verdient, hier zu leben."
Rassismus gegen Roma in ganz Europa
Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr gaben sieben von zehn Rumänen an, dass sie den Roma nicht trauen würden. Jeweils zwischen 20 und 30 Prozent der Befragten waren der Meinung, die Roma hätten zu viele Rechte, der Staat dürfe Gewalt gegen sie anwenden oder dass Diskriminierung und Hassreden gegen Roma nicht bestraft werden dürften.
Solche Einstellungen gibt es nicht nur in Rumänien. In ganz Europa führt der Rassismus gegen die größte ethnische Minderheit des Kontinents zur Verweigerung grundlegender Bürgerrechte, zum Ausschluss von Beschäftigung und öffentlichen Diensten und - vielleicht am auffälligsten - zur Abschiebung von Roma-Gemeinschaften in Gebiete, in denen es keine angemessene Wasser-, Abwasser- und Abfallentsorgung gibt.
Eine im vergangenen Jahr vom Europäischen Umweltbüro (EEB) veröffentlichte Studie über "Umweltrassismus gegen Roma-Gemeinschaften in Mittel- und Osteuropa” fand heraus, dass die Roma "unverhältnismäßig stark der Umweltzerstörung und -verschmutzung durch Mülldeponien, Altlasten oder schmutzige Industrien" ausgesetzt sind.
Beengt, schmutzig und isoliert
Als Linda Greta Zsiga mit ihrer Familie in Pata Rât ankam, wurden alle zwölf Familienmitglieder in ein Zimmer gepfercht. Auf den 16 Quadratmetern war nicht einmal Platz für die wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten. Eine einzige Toilette und eine Kaltwasserdusche musste sich die Familie mit den Bewohnern von drei anderen, ebenso überfüllten Zimmern teilen.
Linda Greta Zsiga erinnert sich noch genau, wie sie das erste Mal aus dem Fenster blickte. Sie sah Müll, überall nur Müll. "Es gab weder Vögel noch Bäume", sagt sie. "Dabei liebe ich die Natur so sehr."
Laut einer UN-Studie aus dem Jahr 2012 leiden 22 Prozent der Erwachsenen in Pata Rât an chronischen Krankheiten oder an anderen Gesundheitsbeeinträchtigungen. Die Forscher dokumentierten hohe Fallzahlen an Hautinfektionen, Asthma, Bronchitis, Bluthochdruck, Herz- und Magenproblemen. Ein Bericht des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma aus demselben Jahr, stellte fest, dass sich die gesundheitlichen Probleme der ehemaligen Bewohner der Coastei-Straße seit ihrer Ansiedlung in Pata Rât mehr als verdoppelt hatten.
Laut der EEB-Studie sind Zwangsräumungen der größte Treiber von Umweltrassismus gegen die Roma. Demnach müssen Roma vor allem Orte mit "hohem wirtschaftlichem Wert" räumen. Die Menschen aus der Coastei-Straße haben nie erfahren, warum sie ihre Wohnungen verlassen mussten. Linda Greta Zsiga jedoch glaubt, den Grund zu kennen. "Sie wollten Cluj von uns Roma 'säubern, heute leben nur noch sehr wenige Roma in der Stadt."
Die Stadtverwaltung von Cluj-Napoca sagte der DW, dass sie die Deponie Pata Rât säubern und der Bevölkerung Unterstützungsangebote unter anderem zur Gesundheitsversorgung machen werden. Sie wollen auch versuchen, Zwangsräumungen zu verhindern. Und sie würden auch als Partner in einem Programm, das Unterkünfte für 30 Familien bereitstellen kann, Hilfe anbieten wollen.
Müllsammler aus dem Geschäft gedrängt
Seit die Deponie offiziell geschlossen wurde, fehlen belastbare Gesundheitsdaten aus Pata Rât. Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisation vor Ort berichten allerdings, dass Atemwegserkrankungen hier nach wie vor weit verbreitet sind, auch bei Kindern.
Und wirtschaftlich hat die Schließung der Deponie das Leben in Pata Rât noch schwieriger gemacht. So auch für Adela Ludvig. Die 28-Jährige hat vier Kinder und lebt hier schon, solange sie denken kann. Ihr Haus besteht aus Sperrholz, das Dach war mal eine Werbeplane. All das fand sie auf der Müllhalde. Wenn sie aus dem Fenster ihrer "Villa" schaut, wie sie ihre Hütte nennt, blickt sie auf eine mit blauer Abdeckfolie überdeckte Chemiemüllhalde, umsäumt von Stacheldraht.
Früher sammelte Adela Ludvig Plastikflaschen und Plastikfolien, Dosen und Pappe. Die verkaufte sie an ein Recyclingunternehmen. Mit diesem Geld konnte sie sich und ihre Kinder durchbringen. "Ich konnte Lebensmittel kaufen", sagt sie, "oder Medikamente, wenn die Kinder sie brauchten".
Aber die neuen "temporären" Deponien sind eingezäunt. Als die große Müllhalde geschlossen wurde, standen Müllsammler wie Adela Ludvig plötzlich ohne Arbeit da. "Die Menschen weinten vor Hunger", erzählt sie.
Adela Ludvig und ihre Kinder - ein fünftes ist unterwegs - leben jetzt von den 220 Euro, die sie jeden Monat an Kindergeld bekommt. Der nächste Wasserhahn ist mehrere hundert Meter von ihrer Hütte entfernt. Vier bis fünf Mal am Tag läuft sie dorthin. Die Familie hat zwar auch Zugang zu einem Stromgenerator, aber sie kann sich das Benzin dafür nicht leisten.
Die Roma in Pata Rât wehren sich
Mehr als ein Jahr nachdem erklärt wurde, die Deponie sei nun "Geschichte", versprach der Bürgermeister von Cluj-Napoca, dass die Lager von Pata Rât "bis 2030 verschwinden" würden. Er verriet jedoch nicht, was mit den 350 dort lebenden Familien geschehen soll. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bewohner die Sache schon selbst in die Hand genommen.
Im Jahr 2012 gründeten Linda Greta Zsiga und andere ehemalige Bewohner ihrer Straße gemeinsam mit einigen Menschenrechtsorganisationen eine Vereinigung, um Lösungen für die Wohnsituation in Pata Rât zu finden. Außerdem verklagten sie die Behörden wegen ihrer Vertreibung. Noch warten sie auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in ihrem Fall.
Dank finanzieller Unterstützung aus Norwegen konnten zwischen 2014 und 2017 insgesamt 35 Familien, die einst in der Coastei-Straße gelebt hatten, von Pata Rât zurück nach Cluj-Napoca oder in umliegende Dörfer ziehen. Da Norwegen nicht EU-Mitglied ist, aber am Binnenmarkt teilnimmt, finanziert die norwegische Regierung im Gegenzug soziale Projekte in Süd- und Osteuropa.
Linda Greta Zsiga lebt heute mit ihrem Partner und ihren Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Stadt. Aber sie hat Pata Rât nicht vergessen. Ihre Geschwister und deren Familien leben noch immer dort. Linda Greta Zsiga arbeitet gerade daran, dass weitere 30 Familien im Rahmen der Initiative umziehen können. "Ich wünsche mir, dass niemand mehr in Pata Rât lebt", sagt sie, "niemand hat es verdient, dort zu leben."