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Politik

Leben in Tschechien 13.000 oder 300.000 Roma?

Luboš Palata
19. April 2021

Bei Volkszählungen bekennen sich viele tschechische Roma nicht zu ihrer Nationalität. Ein Grund: Die Erinnerung an den Völkermord der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Eine Kampagne will das nun ändern.

Tschechien Roma und Volkszaehlung
"Ich bin Rom! Ich bin Romni! Wir sind Roma! Und was bist du? Volkszählung 2021. Vom 27.3.2021 an." steht auf diesem Screenshot der Volkszählungs-Kampagne der tschechischen Roma-OrgansationenBild: www.romea.cz

Seit Samstag (17.04.2021) sind Tausende von Volkszählungsbeauftragten in den tschechischen Haushalten unterwegs. Sie nehmen Daten auf für den letzten Teil der aktuellen Volkszählung, die in der Tschechischen Republik alle zehn Jahre stattfindet.

Mehrere Millionen Bürgerinnen und Bürger haben bereits elektronisch Volkszählungsformulare ausgefüllt. Der vom Tschechischen Statistischen Amt (ČSÚ) organisierte Zensus, der am 11. Mai endet, ist für die öffentliche Verwaltung ein Schlüsselinstrument für wichtige Entscheidungen wie die Verteilung von Steuern auf Städte und Regionen, den Bau von Schulen oder Straßen.

"Roma Pride March" am Internationalen Roma-Tag in Brno am 8. April 2019Bild: Vaclav Salek/CTK Photo/dpa/picture alliance

Aus diesem Grund ist die Volkszählung auch ein Schlüsselereignis für ethnische Minderheiten, insbesondere für die größte Tschechiens: die Roma. Beim letzten Zensus im Jahr 2011 gaben nur etwa 13.000 Menschen ihre Nationalität als "Roma" an; qualifizierte Schätzungen von Experten legen jedoch nahe, dass die tatsächliche Zahl der Angehörigen der Minderheit in dem EU-Mitgliedsstaat bei 200.000 bis 300.000 liegt. Ein großer Teil von ihnen gehört zu den sozial schwächsten Gruppen der tschechischen Bevölkerung.

Tschechische Roma-Organisationen führen eine umfangreiche Kampagne durch, mit der sie versuchen, die Roma im Land davon zu überzeugen, sich diesmal zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu bekennen. "Wir halten dies für wichtig, da die Daten, die uns die Volkszählung liefern wird, Einfluss darauf haben, wie sich die Integration der Roma in Tschechien in den kommenden Jahren entwickeln wird", sagte Michal Miko, Direktor von RomanoNet, eine der Organisationen, die die Kampagne unterstützt. "Es ist erstaunlich, wie wenige Roma wissen, dass sie als Nationalität sowohl 'Roma' als auch 'Tschechisch' angeben können - und auch beide Nationalitäten, wenn sie sich als Tschechen und Roma fühlen", so Miko gegenüber dem Roma-Infoportal romea.cz.

Größe bedeutet Einfluss

Das statistische Amt selbst versucht, Roma und Angehörige anderer nationaler Minderheiten zu ermutigen, ihre Ethnie anzugeben. "Diese Angaben sind gesetzlich freiwillig, so dass niemand gezwungen werden kann, sie in das Volkszählungsformular einzutragen. Ob es nach der Volkszählung 2021 mehr Roma in Tschechien geben wird, hängt hauptsächlich von den Roma selbst ab", sagt Jolana Voldánová, ČSÚ-Sprecherin für die Volkszählung, der DW. "Das ČSÚ kann nur immer wieder betonen, wie wichtig es ist, die eigene Nationalität anzugeben, gerade für nationale Minderheiten. Zu diesem Zweck betreibt ČSÚ auch eine eigene Kommunikationskampagne", fügt Voldánová hinzu.

Viele Roma in Tschechien gehören zu den sozial schwächsten Gruppen der Bevölkerung des EU-Landes Bild: picture-alliance/dpa/F. Singer

"Das Ausmaß der Vertretung einzelner nationaler Minderheiten spiegelt sich direkt in den Möglichkeiten der Ausübung ihrer Rechte als Bürgerinnen und Bürger der Tschechischen Republik wider. Einfacher gesagt: Je mehr registrierte Vertreter der Minderheiten es gibt, desto größer die Auswirkungen auf Gemeinden, Regionen und den Gesamtstaat ", heißt es in dem offiziellen ČSÚ-Material, das den Volkszählungsbögen beigefügt ist.

Desinteresse der Mehrheit

"Ich wäre angenehm überrascht, wenn das Ergebnis anders ausfällt als vor zehn Jahren. Ich befürchte jedoch, dass dies ein größeres und langfristiges Problem ist und dass die große Kampagne von Roma und gemeinnützigen Organisationen für die Roma sich nicht grundlegend in der Volkszählung widerspiegeln wird ", sagt der DW Jana Horváthová, Direktorin des Museums der Roma-Kultur in Brno, die sich persönlich an der Kampagne beteiligt.

Jana Horváthová vom Museum der Roma-Kultur in Brno wirbt auf Youtube für die Volkszählung 2021Bild: www.romea.cz

"Der Zensus ist ein Spiegelbild der Atmosphäre in der Gesellschaft: Die Roma fühlen sich hier nicht wohl, ihre Belange werden auf ein Minderheitenthema reduziert", so Horváthová weiter. "Die tschechische Gesellschaft ist nicht sehr an ihren Problemen interessiert und erkennt nicht, dass das Problem der Koexistenz mit den Roma auch ihr Problem ist." Als Beispiel führt sie an, dass sie seit Jahrzehnten vergeblich versucht, das Bildungsministerium davon zu überzeugen, die Geschichte der tschechischen Roma in den Geschichtsunterricht aufzunehmen.

Erinnerung an den Holocaust

Ein weiterer Grund, warum ein großer Teil der Roma ihre ethnische Zugehörigkeit nicht angibt, ist laut Experten die Tatsache, dass die Volkszählungsdaten der Tschechoslowakei in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg nach der Besetzung Böhmens und Mährens 1939 von den Nazis für die Ermordung der dortigen Roma missbraucht wurden: das "Porajmos" (deutsch: das Verschlingen).

Das Denkmal für die Opfer des Holocaust an den Roma nahe der Gemeinde Hodonín u KunštátuBild: Museum of Romani Culture, Brno, CZ/Foto: Adam Holubovsky

"Auf der Grundlage von Volkszählungen wurden Listen von Roma erstellt, die dann in Konzentrationslager deportiert wurden", bestätigt die Historikerin Anna Míšková, eine Expertin für den Holocaust an den Roma. "Neunzig Prozent der Roma, die 1938 im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren gelebt hatten, starben während des Krieges", fügt sie hinzu. Die Entscheidung, offiziell Arbeits-, aber in Wirklichkeit Konzentrationslager für die Roma in Tschechien einzurichten, wurde bereits in der Zeit der sogenannten Zweiten Republik (1938-1939) getroffen - also vor der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Die meisten Roma aus diesen Lagern wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet.

Exodus nach Großbritannien

Die Volkszählung wird auch eine neues Phänomen bei den tschechischen Roma mit Zahlen unterlegen: die Massenemigration nach Großbritannien. Nach Schätzungen der Botschaft der Tschechischen Republik in London leben derzeit rund 60.000 von ihnen in Großbritannien - was mehr als der Hälfte aller tschechischen Bürger dort entspricht.

Fest steht: In Großbritannien sind tschechische Roma im Schnitt weit erfolgreicher als zuhause. "Natürlich schwächt das die hiesige Roma-Gemeinschaft", sagt Jana Horváthová, "aber ich gönne den Leuten, dass es ihnen dort besser geht." Auch tschechische Bürgerinnen und Bürger, die in Großbritannien leben, können online an der aktuellen Volkszählung teilnehmen.

Luboš Palata Europaredakteur der tschechischen Tageszeitung "Deník".
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