1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Leben und arbeiten 4.0

20. September 2016

Die digitale Revolution ändert vieles, manche sagen: Alles. Alte Gewissheiten schwinden. Industrie 4.0 prallt auf Soziale Marktwirtschaft. Geht das gut oder ergibt sich ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell?

Geschäftsmann Wiese Glück Symbol
Bild: Fotolia/Iakov Kalinin

Vor einiger Zeit hat Siemens in München ein neues Hauptquartier bezogen. "Super toll" sei das, schwärmt Vorstandschef Joe Kaeser. "Da ist alles aus Glas, alles ganz offen, da kann man sich auch auf dem Flur auf einen Hocker setzen und da arbeiten." Neulich habe er von weitem ein paar "wirklich junge" Mitarbeiter gesehen, die zusammensaßen und "Freude hatten", berichtet Kaeser, "und da dachte ich, da gehe ich jetzt mal hin."

Die Gruppe erschrak. Alle sprangen auf und beeilten sich, dem Vorstandschef zu versichern, dass sie arbeiten würden. Kaeser versuchte, seine Mitarbeiter zu beruhigen. Er habe doch nur wissen wollen, wie es ihnen gehe. "Da haben sie ganz zweifelnd geschaut und offensichtlich überlegt, ob ich das wirklich ernst gemeint habe."

"Habt Spaß"

Joe Kaeser erzählt diese Begebenheit beim "Denkraum für Soziale Marktwirtschaft", einer Konferenzreihe, die sich mit den Herausforderungen und Veränderungen in der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beschäftigt. Im März, im Juni und im Juli sind auf Tagungen in Frankfurt, Leipzig und München Themen wie Demografie und Wandel, Globalisierung und digitale Transformation behandelt worden. In Berlin geht es jetzt darum, ein Fazit zu ziehen.

Joe Kaeser bei der Diskussion in BerlinBild: Klaus Weddig

Der Veranstaltungsort passt zum Thema. Eine zum Eventcenter umgebaute Lagerhalle aus jener Zeit, in der der Berliner Westhafen Deutschlands zweitgrößter Binnenhafen war. Eine Arbeitswelt, die vergangen ist. Etwa 150 Teilnehmer sind zum "Denkraum" gekommen, in den Stuhlreihen sind viele junge Gesichter zu sehen. "Habt Spaß", gibt ihnen Siemens-Vorstand Joe Kaeser für ihr Berufsleben mit. "Arbeitet oder arbeitet auch nicht, sorgt nur dafür, dass der Job erledigt wird."

Ihm sei herzlich egal, ob einer drei Tage arbeite, einen halben Tag oder sieben, ob er in Spanien sitze, Deutschland oder Amerika. Es gehe doch nur darum, dass das Ergebnis stimme, dass das, was man miteinander verabredet habe, erreicht werde. "Wir müssen es schaffen, dass die Leute die Veränderungen als Chance begreifen."

"Wie wir leben und arbeiten wollen" - Schaubild mit Ideen und VorschlägenBild: Denkraum

Die Digitalisierung ermögliche der gesamten Gesellschaft, ergebnisorientierter zu arbeiten. "Leistung ist Arbeit durch Zeit und nicht Kraft mal Weg, das lernt man in der ersten Physikstunde", so Kaeser.

Mehr Freiheit? Oder doch mehr Zwänge?

Selbstbestimmt leben und arbeiten, das klingt verlockend. Mehr Flexibilität, mehr Zeit für Familie und Freunde, mehr Spaß, mehr Sinnhaftigkeit im Leben. Schöne neue Arbeitswelt? "Das erfolgt nicht automatisch und das darf man auch nicht allen einreden", bremst Bundesbildungs- und Forschungsministerin Johanna Wanka. Neue Regeln seien natürlich im Gespräch, aber das Ganze sei ein Prozess, eine Entwicklung, die von allen Beteiligten ausgehandelt werden müsse.

Die Konferenzteilnehmer werden aufgefordert, ihr Mobiltelefon zu zücken und digital über sieben Aussagen zu den Herausforderungen der zukünftigen Lebens- und Arbeitswelt abzustimmen. Die meiste Zustimmung erhält die Aussage, das Bildungssystem müsse mehr Wert auf die Vermittlung von Kernkompetenzen wie die Fähigkeit, Probleme zu lösen, und Kreativität legen.

Hoch im Kurs steht auch die Aussage, die Digitalisierung und die ständige Erreichbarkeit führten zu persönlichen Belastungen. "Das sorgt mich", kommentiert Joe Kaeser das Ergebnis. "Das ist doch keine Verpflichtung, jeder kann sein Handy doch abschalten." Die wenigsten Stimmen erhält die Aussage, dass neue Arbeitsformen eine Gefahr für bestehende Sozialstandards seien und Regulierungsbedarf bestehe. "Man merkt, dass hier keine Gewerkschafter anwesend sind", sagt Bildungsministerin Wanka.

Was stärkt die Wirtschaft?

Wohlstand für alle, das war das Versprechen, das die soziale Marktwirtschaft über Jahrzehnte gegeben hat. Ein Unternehmen, das waren in erster Linie die Beschäftigten, die zum Teil von der Ausbildung bis zur Rente an Bord blieben. Für die der Arbeitgeber Verantwortung trug. Wirtschaftliche Leistung wurde mit sozialem Fortschritt verbunden. Werte, die in einer globalisierten Welt an Bedeutung verloren haben. Die Digitalisierung und die Alterung der Gesellschaft tun ihr Übriges. Prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Werden bald immer mehr Arbeiten durch Roboter erledigt? Unsicherheit macht sich breit. Was wird aus den Arbeitskräften, die durch die Digitalisierung überflüssig werden? Ist die soziale Marktwirtschaft ein Auslaufmodell?

Robo-Adviser soll Bankberater ersetzen

02:55

This browser does not support the video element.

"Auf keinen Fall", sagt Frank Appel. Der Vorstandschef der Deutsche Post DHL Group ist optimistisch, dass es eine Rückbesinnung auf Werte und Ideale gibt. Soziale Marktwirtschaft 2.0 nennt er das und breitet die Arme aus, um die Gegenpole Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit darzustellen. "Das müssen wir zusammenzubringen, das müssen wir managen", fordert er. Die Idee der Verknüpfung ökonomischer und sozialer Ziele inspiriere längst auch das Unternehmertum. "Der exklusive Fokus auf Gewinnmaximierung und Wertschaffung für die Aktionäre ist zu kurzsichtig."

Mehr Mut zum Risiko?

Ein hehrer Anspruch, der so gar nicht zum allgemeinen Vertrauensverlust der Arbeitnehmer und Bürger passt. Immer mehr junge Menschen würden am liebsten eine Stelle im vermeintlich sicheren Staatsdienst antreten und nicht in der freien Wirtschaft. "German Angst" nennt sich das, der Glaube, dass morgen eben doch nicht alles besser sein wird als heute.

Vor den Info-Wänden kam man ins GesprächBild: Klaus Weddig

Ein Denken, dass die deutsche Wirtschaft nicht stärkt, sondern schwächt. Könnte ein Mentalitätswechsel helfen? Mehr Risikobereitschaft und Eigeninitiative? Die Möglichkeit, auch mal scheitern zu dürfen? Im Publikum der Denkraum-Konferenz findet diese Anregung viele Fürsprecher. Jungen Menschen sollte die Möglichkeit für ein "Jahr des Scheiterns" eingeräumt werden. Am besten gleich nach dem Abitur.

Viele Fragen, kaum Antworten

Doch wer soll das finanzieren? Der Staat? Der Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest glaubt nicht, dass sich auf diese Weise grundlegende Einstellungen in Deutschland ändern lassen. "Wir haben die Menschen, die wir haben und man kann Mentalitäten nicht wechseln wie einen Hut", kritisiert der Präsident des ifo-Instituts. Der Staat könne nur versuchen, "die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die Leute weniger abgeschreckt werden". Als Beispiele nennt er eine Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und neutrale Rahmenbedingungen für Kapitalmärkte.

Am Ende wirft auch die Fazit-Konferenz des Denkraums mehr Fragen auf, als sie Antworten liefert. Das müsse aber nicht schlecht sein, meint als einer der letzten Redner in Berlin Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. "Ein Diskussionsprozess, der nicht Ergebnisse liefert am Anfang, bringt uns trotzdem voran." Er sei da ganz optimistisch, so Schäuble. Wichtig sei allein, immer im Gespräch zu bleiben.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen