Leben unter der Hamas
23. Januar 2006
Kalkilja liegt direkt an der Grenze zu Israel im nördlichen Teil des Westjordanlands, das Mittelmeer ist nur rund 20 Kilometer Luftlinie entfernt. Es ist ein hübsches kleines Städtchen. Die Straßen sind von unzähligen Geschäften gesäumt. Hölzerne Arkaden mit roten Ziegeldächern spenden im Sommer Schatten und schützen im Winter vor dem Regen. Gepflegte Bäume und zerzauste Palmen schmücken die Straßenränder und zeugen von besseren Tagen. Von den Tagen vor dem Oslo-Friedensvertrag und vor der Intifada, als die 40.000-Einwohnerstadt noch nicht von einer unüberwindbaren Betonmauer umgeben war. Als die Bauern von Kalkilja noch ihre Felder bewirtschaften konnten, die nun für sie unerreichbar hinter der israelischen Sperranlage liegen. Als die Menschen ihre Stadt noch verlassen und in Israel arbeiten und ihre Verwandten in anderen Städten des Westjordanlandes besuchen konnten.
Jetzt sei alles ganz anders, sagt der Lebensmittelhändler Abu Mahmoud: "Die Situation ist schwer, sie ist sehr schwer. Kalkilja ist belagert. Viele Leute können nicht zur Arbeit oder auf ihre Felder gehen. Studenten, die an ihre Unis wollen, können nicht hin. Sie kommen einfach nicht durch die Straßensperre. Und selbst wenn sie rauskommen, wissen sie nicht, ob sie wieder zurück können", erzählt Abu Mahmoud. Er habe einen Sohn, der an der Najah-Universität in Nablus studiere. Manchmal verpasse er seine Prüfungen. "Es kommt darauf an, ob sie ihn durchlassen oder nicht", erklärt der Lebensmittelhändler. Das sei nur eines der vielen Hindernisse, mit denen sie zu tun hätten. Was die wirtschaftliche Lage angehe, sei es fast katastrophal.
Einkaufen auf Kredit
Abu Mahmoud zählt das Geld, das er heute eingenommen hat. 50 Shekel in kleinen Münzen, weniger als zehn Euro. Mit den Einkünften aus seinem kleinen Laden muss er seine Frau und seine zehn Kinder ernähren. Eine andere Einkommensquelle habe er nicht, sagt er. Er könne nur auf Gottes Erbarmen setzen. Seine Kunden dagegen setzen auf sein, Mahmouds Erbarmen. Viele können ihre Einkäufe nicht mehr bezahlen und lassen bei ihm anschreiben.
"Viele Leute kaufen auf Kredit ein. Früher war das nicht so. Früher haben sie sofort bezahlt. Aber jetzt gibt es viele Leute, die nicht bezahlen können. Und was soll ich machen? Soll ich ihnen etwa kein Essen geben? Die wollen doch nur ihre Kinder und Frauen ernähren", fragt der Lebensmittelhändler. Manchmal dauere es vier oder fünf Monate, bis sie bezahlten. Einer schulde ihm schon seit vier oder fünf Jahren Geld, 1000 Shekel. Die habe er natürlich verloren, sagt Abu Mahmoud. "Und dann gibt es einen, der schuldet mir 700. Wenn ich das Geld hätte, könnte ich mehr Waren dafür einkaufen und dann könnte ich wieder mehr verkaufen."
Stolz auf die Arbeit der Hamas
An der schlechten wirtschaftlichen Situation von Kalkilja kann auch die radikal-islamische Hamas nichts ändern, die bei den Kommunalwahlen im letzten Mai das Bürgermeisteramt und alle 15 Sitze im Stadtrat erobert hat.
Auf dem Stuhl des Bürgermeisters, unter einem Porträt von Jassir Arafat, sitzt Hashem el Masri. Der 44-jährige Apotheker ist stellvertretender Bürgermeister. Der eigentlich gewählte Hamas-Aktivist Waji Nasal sitzt seit vier Jahren ohne Anklage in einem israelischen Gefängnis. El Masri ist stolz auf das, was die Hamas in den letzten Monaten erreicht hat. "Seit wir unsere Arbeit in der Stadtverwaltung aufgenommen haben, haben wir schon viel erreicht. Sowohl, was die Verwaltung als auch was die Finanzen und was die Dienstleitungen angeht." Zuerst hätten sie administrative Veränderungen vorgenommen und neue Strukturen geschaffen. Dann hätten sie den Haushalt neu geordnet - selbst die Weltbank sei zufrieden gewesen und habe sie für die Reformen gelobt. "Sie hat sogar anderen Gemeinden empfohlen, sich an unserer Haushaltspolitik zu orientieren", erzählt El Masri.
Hauptproblem Arbeitslosigkeit
Das Budget von Kalkilja sei inzwischen wieder im Gleichgewicht, so el Masri. Gegen das Hauptproblem der Stadt, die Arbeitslosigkeit, sei man jedoch machtlos. Die Menschen in Kalkilja hätten früher vier Einkommensquellen gehabt: Landwirtschaft, Handel, die Stadtverwaltung und die Arbeit innerhalb der grünen Linie, also in Israel. Durch den Bau der israelischen Mauer seien mehr als 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen konfisziert worden. Der Handel sei um mehr als 50 Prozent zurückgegangen und 90 Prozent derjenigen, die in Israel arbeiteten, seien jetzt arbeitslos, erklärt El Masri. "Es bleiben also nur die Gehälter der Stadtverwaltung übrig und die Zuwendungen der internationalen Geber."
Doch seit die Hamas an der Macht ist, haben sich die amerikanischen Geber zurückgezogen. Viele Bürger befürchten, dass nach einem Sieg der Hamas in der bevorstehenden Parlamentswahl auch andere Länder ihre Hilfsgelder stoppen könnten.
Zufrieden mit der Hamas
In Kalkilja ist die Stimmung geteilt. Manche fühlen sich von den Islamisten im Rathaus schlecht vertreten und bevormundet. Viele jedoch sind zufrieden mit der Arbeit der Hamas. Sie habe die Finanzen saniert und Transparenz in die Auftragsvergabe gebracht. Dadurch habe sie die Ausgaben senken und neue Arbeitsplätze schaffen können, sagt der Geschäftsmann Abu Imad. "Nachdem sie die Stadtverwaltung übernommen hatten, leisteten sie gute Arbeit. Neulich haben sie ein Büchlein verteilt, in dem sie alles auflisten, was sie schon gemacht haben. Ja, sie haben gute Arbeit geleistet und das hilft jetzt natürlich den Islamisten, die für das Parlament kandidieren."
Endlich Frieden
Dass die Hamas auch das gesellschaftliche Leben verändert hat, dass sie die Frauen dazu auffordert, Kopftücher zu tragen und keine gemischt-geschlechtlichen Feste mehr duldet, das stört Abu Imad nicht. Das schreibe die Religion so vor und das sei vertretbar. Dennoch macht er sich Sorgen. Denn wenn die Hamas bei den Wahlen gut abschneidet, könnte das die Wiederaufnahme des Friedensprozesses in weite Ferne rücken. "Das palästinensische Volk ist aufgewacht und denkt nach. Die Menschen wissen, dass die Israelis nicht mehr mit ihnen verhandeln werden, wenn die Islamisten das Parlament übernehmen. Denn Israel sagt, das sind alles Terroristen. Die Leute werden es daher nicht erlauben, dass die Islamisten 100 Prozent kriegen", erklärt Abu Imad.
Den Oslo-Friedensprozess hält Abu Imad für eine Farce. Den Palästinensern habe er gar nichts gebracht. Nur die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die weitere Zerstückelung ihres Landes. Er wünscht sich einen echten Frieden, einen gerechten Frieden, der beiden Völkern Wohlstand und Sicherheit bringt. "Wollen wir doch mal ehrlich sein. Wo wollen wir sie denn hinschicken, die Juden? Wo sollen sie denn hingehen? Sie sind hier, das ist doch die Realität. Und wo sollen wir hingehen? Es reicht. Sie sollten jetzt endlich den Frieden akzeptieren, einen gerechten Frieden. Einen umfassenden Frieden, einen Frieden, an den auch mein Sohn glauben kann, an den auch ich glauben kann. Einen richtigen Frieden."