Lebenslange Haft im Lübcke-Mordprozess
28. Januar 2021Letztlich war das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im Fall Walter Lübcke keine Überraschung. Und doch dürften einige Prozessbeteiligte mit dem am Donnerstag gefallenen Urteilsspruch nicht gänzlich zufrieden sein - die Verteidiger, weil es deutlich über dem von ihnen geforderten Strafmaß lag, Ankläger und Nebenklage, weil es nicht das ausschöpfte, was sie sich erhofft hatten.
Stephan Ernst muss zwar wegen Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten lebenslang in Haft. Außerdem stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest. Doch die unter anderem von der Bundesanwaltschaft als Ankläger in dem Verfahren geforderte Sicherungsverwahrung für Ernst wurde lediglich unter Vorbehalt angeordnet.
Vom versuchten Mord an einem irakischen Flüchtling, dessentwegen Ernst ebenfalls angeklagt war, wurde der 47-Jährige freigesprochen. Ebenfalls freigesprochen wurde der Mitangeklagte Markus H. vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord an Lübcke. H. ist wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre.
Gericht sieht niedrige Beweggründe
Gut drei Stunden dauerte am Donnerstag die Urteilsbegründung des Senats. Man habe es sich nicht leicht gemacht in diesem Verfahren, so der Vorsitzende. Doch es gelte der Grundsatz "in dubio pro reo". Wenn etwas nicht zweifelsfrei erwiesen sei, dürfe ein Angeklagter deswegen nicht verurteilt werden. Das gelte sowohl für Ernst in Bezug auf die Messerattacke auf den Flüchtling als auch für H. im Fall der ursprünglich angeklagten Beihilfe zum Mord.
Dass Ernst jedoch Lübcke im Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Ista bei Kassel erschoss, daran habe kein Zweifel bestanden. Und auch, dass er dabei allein war, stehe fest. Weil er heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt habe, stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest. Damit kann Ernst nicht nach frühestens 15 Jahren Haft einen Antrag stellen, vorzeitig entlassen zu werden.
Ernst kann Sicherungsverwahrung vermeiden
Sicherungsverwahrung ordnete das Gericht unter Vorbehalt an. Nur wenn sich während seiner Haft herausstellt, dass Ernst weiterhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt, kann diese Maßnahme verhängt werden. Er könne selbst beeinflussen, die Sicherungsverwahrung zu vermeiden, etwa indem er an einem Aussteigerprogramm für Rechtsradikale teilnehme.
Zu Beginn der Urteilsbegründung wandte sich der Vorsitzende zunächst an die Familie des Ermordeten: "Wir wissen, dass es schwer für Sie war." Ob die Angehörigen in den vergangenen Monate jedoch tatsächlich, wie erhofft, Antworten auf die Frage fanden, warum ihr Ehemann und Vater erschossen wurde, ist zweifelhaft. Zu vieles ist auch nach 44 Prozesstagen im Unklaren geblieben.
Nach Ansicht des Gerichts hat Stephan Ernst den damaligen Regierungspräsidenten "nicht aus persönlichen Gründen", sondern wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen und der Funktion als Repräsentant des Staats erschossen. Mit dem Mord habe er "ein Zeichen setzen" und andere Politiker davon abhalten wollen, ähnlich zu handeln. Wann und warum aber der Entschluss gefallen war, Lübcke zu töten, habe sich auch dem Gericht nicht erschlossen.
Drei unterschiedliche Versionen der Tat
An den mindestens drei Versionen, die Ernst zu den Hintergründen der Tat abgegeben hatte, bestünden erhebliche Zweifel. Zahlreiche Äußerungen darüber, was am Abend des Mordes geschah, hätten nicht zu den tatsächlichen Gegebenheiten gepasst. Unter anderem deshalb sei letztlich auch Markus H. freigesprochen worden.
Zunächst hatte Stephan Ernst ausgesagt, allein gehandelt zu haben. Später hatte er angegeben, H. habe geschossen. Dann wiederum sagte er, H. habe ihn radikalisiert und sei beim Schuss dabeigewesen. Das aber glaubte der Senat nicht. Ernst habe allein "und voller Hass gehandelt".
Lübcke wurde "zur Projektionsfläche seines Hasses"
Der 65 Jahre alte Lübcke war demnach während einer Bürgerversammlung 2015 ins Visier des Angeklagten geraten. Er hatte sich positiv über die Aufnahme von Flüchtlingen geäußert und sei für Ernst so "zur Projektionsfläche seines Hasses geworden". Der seit frühester Jugend "in rassistischer und völkischer-nationaler Grundhaltung verhaftete" Angeklagte habe den Politiker daraufhin regelrecht ausspioniert, den Tag der Tat im Sommer 2019 mit Bedacht gewählt.
Der Lärm einer nahen Kirmes habe den Schuss auf Lübcke übertönen sollen. Während in seiner Nähe fröhlich gefeiert wurde, saß der Regierungspräsident rauchend auf seiner Terrasse. "Er hielt die Situation für vollkommen ungefährlich und rechnete nicht mit einem Angriff", betonte der Vorsitzende. Als Ernst sich näherte, habe er keine Möglichkeit gehabt, um noch reagieren zu können. Zwischen 23:20 Uhr und 23:30 Uhr habe Ernst aus einer Distanz von höchstens 150 Zentimetern gezielt in den Kopf seines Opfers geschossen. Ruhig und überlegt sei der Angeklagte vorgegangen, auch habe er sein Unrecht erkennen können, so das Gericht. Die Tat habe er bei Befragungen monoton und ohne Regung erläutert.
Hinweise auf Angriff, aber keine Belege
Hinsichtlich des Angriffs auf den irakischen Flüchtling im Sommer 2016 habe das Gericht zwar ebenfalls Anhaltspunkte gesehen, "die auf eine Täterschaft des Angeklagten hinweisen", wie es hieß. "Wir wissen, dass Sie wahrscheinlich aus rein ausländerfeindlichen Gründen angegriffen wurden und wir bedauern das für Sie", richtete der Vorsitzende sein Wort an den jungen Mann, der als Nebenkläger aufgetreten war. Allerdings könne man nicht sicher davon ausgehen, dass Ernst die Tat begangen habe. "Deswegen können wir ihn auch nicht dafür verurteilen."
Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung für Stephan Ernst sowie neun Jahre und acht Monate Haft für Markus H. wegen Beihilfe zum Mord gefordert. Die Verteidiger von Ernst hatten eine Verurteilung wegen Totschlags gefordert, die Verteidiger von H. Freispruch von allen Anklagepunkten. Die Bundesanwaltschaft hat bereits angekündigt, Revision gegen das Urteil einzulegen.