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Politik

Wałęsa: "Sie hätten mich töten können"

Bartosz Dudek | Tomasz Lis
28. August 2020

Vor 40 Jahren die unabhängige Gewerkschaft Solidarność in Polen gegründet. Das war der erste Schritt zum Sieg über den Kommunismus, erinnert sich Lech Wałęsa im gemeinsamen DW/Newsweek-Interview.

Lech Walesa, ehemaliger polnischer Präsident
Lech Walesa in seinem Büro (Danzig, 2020)Bild: DW/A. Holthausen

DW/Newsweek: Wann ist es Ihnen bewusst geworden, welche Konsequenzen für Polen, für Europa und die Welt der Streik vom August 1980 haben wird?

Lech Wałęsa: Ehrlich gesagt bereits zehn Jahre früher. Auch damals, im Dezember 1970, haben wir gestreikt. Wir haben verloren, aber ich sagte: Gott, gib mir noch mal die Chance, zurück zu kommen und das Werk zu Ende zu bringen. August 1980 war für mich die Fortsetzung des Kampfes.

Wer hat Sie dazu inspiriert?

Die Generation, die vor mir da war. Die seit jeher vom freien Polen geträumt hat, die immer vom Verrat an Polen 1939 und 1945 erzählte. Die auf eine Chance gewartet hat. So bin ich groß geworden und auch ich habe auf eine Chance gewartet. Das war zunächst ein individueller Kampf, denn am Anfang hatte ich keine Mitstreiter. Nach 1980 war es einfacher, denn ich wurde bekannt.

Sie wurden dank westlicher Medien bekannt. Können Sie sich daran erinnern, wie die westlichen Journalisten den Streik begleiteten?

Ich war immer ein Mensch, der hier und jetzt versucht, eine Chance zu nutzen. Im Sommer 1980 fand in Sopot bei Danzig ein internationales Musikfestival statt. Wir haben Leute aus der Werft hingeschickt, damit sie Journalisten mitbringen. Einer ist gekommen, dann hat er andere benachrichtigt und dann wurden wir ununterbrochen von Journalisten belagert. Ich kann mich erinnern, einer von ihnen hat mich gefragt: Was wollt ihr mit den Streiks bezwecken? Ohne dass man arbeitet, gibt es doch kein Brot. Ich antwortete ihm, es gebe zwei Wege: Man kann arbeiten, damit es einem besser geht, aber man kann auch eine Freiheit erkämpfen, die einem noch mehr Brot beschert.

Lech Wałęsa spricht zu den streikenden Arbeitern der Lenin-Werft in Danzig, 1980Bild: picture-alliance/IMAGNO/Votava

"Der Spiegel" von damals berichtete, Sie hätten einem amerikanischen Journalisten gesagt: "Ich habe keine Niederlage befürchtet, ich fürchtete den Sieg". Was haben Sie damit gemeint?

Ich meinte, es war noch zu früh. Wir wussten eher, wie man kämpft, aber wir wussten nicht, was man daraus macht. Ein Kampf ist einfacher. Ich habe gedacht, unsere Eliten und der Westen haben ein Programm. Sobald wir etwas verändern, wird es angewandt. Aber es gab nichts desgleichen.

Wie war die Rolle der katholischen Kirche bei den Streiks im August 1980? Wäre die Wende ohne den polnischen Papst denkbar?

Wir sollen nicht übertreiben: Das war nicht der Papst, der die Revolution machte. Der Papst hat uns aber mobilisiert. Ein Jahr nach seiner Wahl kam er nach Polen und fast das ganze Volk kam, um ihn zu treffen.

Die Kommunisten haben vorher immer wiederholt: Was ist das für eine Opposition, wie viele seid ihr? Auf einmal haben alle gemerkt: Nicht wir, sondern sie sind in Unterzahl. Und wir haben aufgehört, uns zu fürchten. Gleichzeitig sagte der Papst: "Macht das Antlitz der Erde neu". Das hat uns ermutigt und ein Jahr später hatte Solidarność 10 Millionen Mitglieder.

Und Sie haben damals, als Sie der Übermacht des Regimes gegenüber standen, tatsächlich keine Angst gehabt?

Ich wusste, dass man mich jederzeit liquidieren konnte. Deswegen war ich hundertprozentig engagiert. Sie hätten mich töten können, aber sie hätten mich nicht besiegt. So war ich damals!

Sie haben damals dem Regime eine unerhörte Forderung gestellt: Zulassung einer großen, unabhängigen Gewerkschaft. Es war die politisch wichtigste von insgesamt 21 Forderungen, die die streikenden Arbeiter unter Ihrer Führung gestellt haben. Zehn Jahre früher hatten die Kommunisten die Streiks blutig niedergeschlagen. Was hat sie bewogen, diesmal anders zu handeln?

Sie wollten uns immer betrügen. Aber diesmal waren sie so eingebildet, dass sie dachten, sie würden damit zurechtkommen. Auch beim Runden Tisch 1989 wollten sie uns betrügen und dachten, dass es ihnen gelingen wird. Ich dachte wiederum: Öffnet mir einen Spalt und ich werde meinen Arbeiterstiefel in die Tür setzen - und sie werden sie nicht mehr schließen können. Gebt uns die Gewerkschaften und der Rest wird erledigt. Ich wusste damals nicht, ob das gleich klappt, aber ich wusste, wir sind ein Stück näher ans Ziel gerückt.

Streikposten der Gewerkschaft Solidarnosc am Eingang zur Danziger Lenin-Werft, 1980Bild: picture-alliance/dpa/L. Oy

Schon eine Woche nach dem Streikbeginn wurden Sie auf den Titelseiten der wichtigsten Magazine der Welt abgebildet. Wurde Ihnen klar, dass sie einer der bekanntesten Menschen auf diesem Planeten werden?

Es hat mich wirklich nicht interessiert, bis heute nicht. Ich habe einen anderen, keinen typischen Charakter. Ich wurde in einfachen Verhältnissen auf dem Lande großgezogen. Man hat mir beigebracht: wenn du dich schon für irgendetwas entscheidest, musst du liefern, so gut, wie du kannst. Deswegen habe ich über meine Karriere nicht nachgedacht. Das ist heute auch so. Das interessiert mich nicht. Ich tue nur das, wozu ich mich entschlossen habe.

War es Ihnen aber klar, dass Sie eine große Bewegung schaffen, dass die ganze Welt darüber spricht und ein großes internationales Spiel beginnt?

Nein. Ich dachte nur darüber nach, was man machen soll, um den Kommunismus zu besiegen.

Sie wurden aber damals schon von westlichen Spitzenpolitikern besucht. Können sich an ihre ersten Kontakte mit westdeutschen Politikern erinnern?

Die Deutschen waren neugierig, was wir machen oder was wir vorhaben. Ich erinnere mich an ein Treffen mit Hans Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister. Das war wohl 1981 in Paris. Er kam inkognito in mein Hotel. Er fragte: Was habt ihr vor? Und ich habe ihm zum ersten Mal gesagt: Wir werden die Berliner Mauer einreißen, wir werden den Kommunismus niedermachen. Er war überrascht und wollte nicht daran glauben. Später, als das Ganze sich bewahrheitet hatte, sagte er mir bei unserem letzten Treffen: Ich habe Angst mit Ihnen zu reden, denn alles, was Sie vorher sagen, erfüllt sich.

Aber die offizielle westdeutsche Politik hat sich damals tatsächlich sehr verhalten gezeigt. Nehmen Sie das vor allem den damals regierenden deutschen Sozialdemokraten nicht übel, dass sie Solidarność nicht offen unterstützen wollten?

Die Hälfte der Deutschen hat uns immer geholfen, die andere Hälfte war dagegen, denn sie fürchteten die Sowjets. Aber das war sehr gut, denn hätten die Deutschen uns zu viel geholfen, hätten sie Russland einen Vorwand geliefert. Und so war alles ausbalanciert.

Europäisches Solidarnosc-Zentrum in DanzigBild: DW/M. Sieradzka

Sie erhielten 1983 den Friedensnobelpreis und sind heute wohl der bekannteste lebende Pole weltweit. Sie haben aber in Polen nicht nur Freunde, sondern auch Feinde, die sogar aus ihrem nächsten Kreis stammen. Ihnen wird vorgeworfen, Agent der Geheimdienste gewesen zu sein. Wie erklären Sie sich das?

Keiner kann verstehen, was ich durchgemacht habe. Deswegen urteilt jeder über mich auf eigene Weise. Und viele denken: Ein Elektriker allein hätte das nie geschafft. Unmöglich. Weil er dazu nicht im Stande gewesen wäre, habe ihm jemand geholfen. Seine Berater waren es nicht, dann bestimmt die Staatssicherheit. Das kann man nachvollziehen.

Ich habe alles mit vollem Einsatz und Ehrlichkeit, so gut ich konnte, gemacht. Und wenn jemand meint, ich wäre Agent gewesen, dann hätte er das besser machen können. Wenn einer es gekonnt hätte, aber nicht gemacht hat, dann ist er selbst Agent und ein Schwein gewesen. 

Wie sehen Sie Ihren Platz in der Geschichte?

Ich bin am Ende meines Weges, ich bin schon zu alt. Ich habe mir vorgenommen, das System zum Absturz zu bringen und das tat ich auch. Ich habe das auf meine Art und Weise gemacht. Ich habe geliefert. Jetzt müsst ihr übernehmen.

Das Interview führten Bartosz Dudek (DW Polnisch) und Tomasz Lis (Newsweek Polska)

Lech Wałęsa (geb. 1943) leitete im Dezember 1970 und August 1980 die Streiks in der Danziger Lenin-Werft, wo er als Elektriker arbeitete. 1980 wurde er zum ersten Vorsitzenden der regierungsunabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Nach der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 wurde Wałęsa als politischer Häftling interniert. 1983 erhielt er den Friedensnobelpreis. Nach dem von ihm mitinitiierten Runden Tisch-Gesprächen mit kommunistischen Machthabern (1989) und ersten freien Präsidentschaftswahlen der Nachkriegszeit (1990) wurde Wałęsa zum Präsidenten der freien Republik Polen. Als Staatspräsident verhandelte er über den Rückzug der Truppen der sowjetischen Armee aus Polen, der 1993 vollzogen wurde.

Aus der Beitragsreihe "Zeit der Solidarność". Ein Projekt von DW Polnisch mit Newsweek Polska. #CzasSolidarności

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