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Lehmann: "Wir sind ein Land der Hoffnung"

Rainer Traube, Aya Bach26. September 2015

Klaus-Dieter Lehmann prägt Deutschlands Kultur seit der Wiedervereinigung: Er vereinte Bibliotheken aus Ost und West, wurde Bauherr der Museumsinsel. Als Chef des Goethe-Instituts weiß er, wie die Welt das Land sieht.

Porträt Klaus-Dieter Lehmann
Bild: picture-alliance/dpa/Maurizio Gambarini

DW: Vor 25 Jahren haben Deutschland und Europa mit der Wiedervereinigung einen Epochenwandel erlebt. Jetzt, mit der Flüchtlingskrise, stehen wir wieder in einem Umbruch. Damit verbindet sich ein fundamentaler Kulturwandel. Glauben Sie, dass die Erfahrung mit 25 Jahren Ost-West-Integration hilft, die Herausforderung zu bewältigen, die nun mit der Migration auf uns zukommt?

Klaus-Dieter Lehmann: Wir hatten nach 1945 die Flüchtlingsintegration. In den 90er Jahren hatten wir eine große Welle von Asylbewerbern. Damals gab es Auseinandersetzungen, das Gesetz wurde verändert. Das waren wichtige Erfahrungen. Ich glaube, dass Deutschland aus einer Identität des Zweifels eine Identität der Verantwortung gewonnen hat. Da spielen diese Erfahrungen eine Rolle. Ich glaube aber auch, dass das Bewusstsein, dass wir inzwischen ein Einwanderungsland sind, unsere Kultur verändert hat. Und dass es eine Bereitschaft gibt, uns zu öffnen.

In den 90er Jahren haben Sie die Deutsche Bibliothek in Frankfurt und die Deutsche Bücherei Leipzig, also die Standorte West und Ost, zusammengeführt zur heutigen Deutschen Nationalbibliothek. Sie haben mit Mitarbeitern aus verschiedenen Systemen zusammengearbeitet. Haben die sich verstanden?

Wir haben einen witzigen Einstieg gewählt. Zwischen Frankfurt und Leipzig gibt es bei Erfurt einen wunderbaren Sportplatz, dort haben wir Fußball gespielt. Wir haben uns erst mal menschlich genähert, bevor wir dann an die anderen Aufgaben gegangen sind. Unsere Fachaufgaben waren durchaus identisch: Struktur und Aufgabenstellung waren gleich. Das konnten wir nutzen. Was wir aber ganz klar gemacht haben: Diejenigen, die sich in der DDR-Zeit bei der Staatssicherheit als Spitzel verdingt hatten mit einer Unterschrift, sich aber nicht dazu bekannt haben, wurden entlassen. Und das hat die Belegschaft der Deutschen Bücherei hoch honoriert.

Sie waren zehn Jahre lang Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, damit auch Chef der Berliner Museumsinsel und Herr von Kulturschätzen, die erst aus den verschiedenen Landesteilen wiedervereinigt werden mussten. Welche Rolle spielen diese Kulturgüter heute für unser Selbstverständnis als Deutsche?

Ich glaube, dass wir mit der Museumsinsel ein Modell geschaffen haben, das unsere Gesellschaft widerspiegelt, nämlich eine offene Gesellschaft. In der Gründungszeit war die Museumsinsel im Grunde etwas, was der Staat für sich in Anspruch nahm - dass wir Deutschen unsere antiken Wurzeln haben und damit zu denjenigen gehören, die auserwählt sind. Heutzutage ist die Museumsinsel kein Monument, sondern ein Ort für alle: für Flaneure, für Kunstliebhaber, für jemand, der shoppen war, sich danach an die Spree setzt und dann ins Museum geht. Berliner und Touristen treffen sich hier. Das gibt es noch nicht mal im Louvre.

Mit der Wiedervereinigung war auch eine historische Pflichtaufgabe verbunden: die dunklen Seiten der deutschen Geschichte neu zu beleuchten - die Nazi-Diktatur und später das DDR-Regime im Osten. Wir glauben heute, dass wir mit unserer Erinnerungskultur eine Art weltweites Vorbild sind. Sind wir das wirklich?

Klaus-Dieter Lehmann (r.) im Interview mit DW-Kulturredakteuren Rainer Traube (l.) und Aya Bach (M.)Bild: DW

Vorbild würde ich nicht sagen. Wir sind ein gutes Beispiel. Wir haben unsere Geschichte tatsächlich reflektiert, und insofern ist das durchaus nachahmenswert. Zur DDR muss man übrigens sagen: Die DDR hat den Faschismus verdrängt und auf die Bundesrepublik projiziert, was eben auch falsch war. Auch in der ehemaligen DDR muss der Nationalsozialismus in dieser Weise aufgearbeitet werden, um die entsprechenden Verhältnisse für die eigene Geschichte zu haben, sonst entsteht ein Tabu. Und Tabus sind nie tragfähig.

Die international erfolgreichen deutschen Kinofilme der letzten 25 Jahre haben meist die DDR oder die Nazi-Zeit im Blick. Ist das der Filter, durch den wir kulturell immer noch wahrgenommen werden? Als Präsident des Goethe-Instituts können Sie das ja beobachten.

Ich kann das so nicht teilen. Die Sicht auf die Nazi-Zeit wird durch uns nicht so sehr in der Welt vermittelt. Ich glaube, wir haben über die Goethe-Institute weltweit fünf Millionen Zuschauer für deutsche Filme, und da interessieren viel mehr die Filme, die das heutige Deutschland zeigen. Das junge, offene, kosmopolitische Deutschland. Auch das Deutschland, das mit seinen Einwanderern umgeht. Die Filme, die wir draußen zeigen, sind ja auch Filme von Regisseuren, die türkischen Ursprungs sind oder die aus ganz anderen Regionen kommen.

Deutschland als offenes und besonders tolerantes Land - das Bild herrschte wochenlang in den Medien und der internationalen Öffentlichkeit bei der Flüchtlingsfrage. Tragen wir mit diesem Offenen, bewusst Toleranten eine historische Schuld ab?

Klar. Wir sind dadurch ein Land der Hoffnung geworden - was dann überbewertet wird. Nur ist auch klar: Wir können nicht nur offen sein, sondern es gibt auch Belastungsgrenzen. Die Belastungen, die jetzt entstehen, kann man in der Anfangsphase noch vertreten und ertragen. Da gibt es auch eine große Solidarität. Aber wir müssen sehen, dass es nicht nur eine Solidarität in Deutschland gibt, sondern es muss auch eine Solidarität in Europa geben. Und da muss die Politik kräftig nachlegen.

Aber es gibt in Deutschland auch Ausländerhass, bis zu Mordanschlägen, schon kurz nach der Wiedervereinigung. Heute werden Brandsätze auf Flüchtlingsunterkünfte geworfen. Glauben Sie, dass unsere Kultur der Offenheit stark genug ist, das auszuhalten?

Die Offenheit ist die einzige Lösung. Aber es gibt drei Gruppen, die man unterscheiden muss. Das eine sind kriminelle Zellen, die als Radikale wirklich zerstören wollen und kein Interesse haben an einer Entwicklung der Gesellschaft. Die zweite Gruppe sind die Mitläufer, und um die muss man sich kümmern. Wir haben immer noch eine zu große Zahl an Mitläufern, die sich keine Gedanken machen über das, was angerichtet wird. Und die dritte, die derzeit immer noch größte Gruppe, sind diejenigen, die eine Willkommenshaltung einnehmen. Aber die Mitläufer machen die Belastung aus. Wenn wir die nicht mit Argumenten und einer Haltung ausstatten, ist das eine kritische Situation. Eine offene Gesellschaft aufzugeben, wäre das Schlimmste, was wir machen können.

Was mögen Sie an diesem Land?

Die Deutschen sind in der Lage, über Dinge zu reden. Das ist für die Menschen in der Welt verblüffend: entweder polarisiert man sich oder schottet sich ab, oder man spricht überhaupt nicht miteinander. Und die Deutschen sind diskursfähig. Das ist das, was mir in der Welt am meisten als Reaktion begegnet, wenn das positive Bild der Deutschen angesprochen wird. Es gibt aber einen Schwachpunkt: Die Deutschen müssen aufpassen, dass sie nicht für all die wunderbaren Dinge, die sie im Moment machen, Dankbarkeit einfordern. Das ist eine Gefahr. Wenn man Dank erwartet und der kommt nicht, kann es kriseln.

Klaus-Dieter Lehmann ist einer der bedeutendsten Kulturmanager Deutschlands. Er war ab 1988 Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/Main und führte sie nach der Wiedervereinigung mit der Deutschen Bücherei in Leipzig zusammen. 1998 bis 2008 war er Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und damit Bauherr der Museumsinsel, die seit der Wende aufwendig saniert wird. Seit 2008 ist Lehmann Präsident des Goethe-Instituts.

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