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PolitikUkraine

Open-Source-Ermittlung in der Ukraine

Cathrin Schaer
27. März 2022

Jahrelang nutzten Internetrechercheure verschiedenste digitale Quellen, um Beweise für russische Kriegsverbrechen in Syrien zu sammeln. Können ihre Erfahrungen jetzt helfen, für Gerechtigkeit für die Ukraine zu sorgen?

Deutschland Prozess um Verbechen im syrischen Bürgerkrieg in Koblenz
Bild: Bernd Lauter/Getty Images/AFP

Die russischen Angriffe auf die Ukraine weisen viele Ähnlichkeiten mit denen in Syrien auf. In Syrien trafen russische Bomben die zivile Infrastruktur, Schulen und Kindergärten, Krankenhäuser und Märkte. Dasselbe geschieht nun in der Ukraine. Bei einigen dieser Vorfälle handelt es sich nach dem humanitären Völkerrecht möglicherweise um Kriegsverbrechen.

In der Ukraine und in Syrien werden solche Vorfälle durch Open-Source-Aktivisten untersucht. Diese Gemeinschaft von Amateur-Ermittlern und professionellen Internetrechercheuren nutzt frei verfügbare Informationen - daher der Name "Open Source" - um die unterschiedlichsten Vorfälle zu registrieren und zu überprüfen.

In der Ukraine sammeln Open-Source-Ermittler Videos von Raketenangriffen, die auf den sozialen Medien veröffentlicht werden, zählen zerstörte Panzer und tragen die Namen von getöteten Soldaten zusammen. Während einige dieser Ermittler über die ganze Welt verstreut sind, befinden sich andere in der Ukraine. Die Open-Source-Ermittler in Syrien verfuhren in den letzten 11 Jahren ähnlich.

Anfänge in Syrien

In Syrien war diese Art der Online-Recherche noch neu und musste sich erst entwickeln. In der Ukraine ist sie nun ausgereift. "Alles, was in Syrien geschehen ist und auch alles was in der Ukraine zwischen 2014 und 2017 geschehen ist, hat den Boden für das bereitet, was jetzt geschieht", stellt Eliot Higgins fest, Gründer von Bellingcat, einem weltweit führenden Internetrecherchenetzwerk. "In Syrien haben wir uns all die Prozesse erarbeitet, die wir jetzt in der Ukraine anwenden. Dort haben wir auch viele Beziehungen mit der Tech-Community aufgebaut sowie mit Organisationen, die sich für Menschenrechte und Transparenz einsetzen, mit politischen Entscheidungsträgern und vielen mehr." 

Eliot Higgins, Gründer des Recherchenetzwerks BellingcatBild: Tolga Akmen/Getty Images/AFP

Mnemonic ist eine in Berlin ansässige gemeinnützige Organisation, die bei diesen Bemühungen eine wichtige Rolle spielt. Es begann mit dem Syrischen Archiv, einer Open-Source-Plattform, die eingerichtet wurde, um digitale Beweise für Menschenrechtsverletzungen während des Syrienkriegs zu sichern.

Gegründet wurde das Archiv 2014 von dem syrischen Journalisten und Experten für digitale Sicherheit, Hadi al-Khatib. Ihm war aufgefallen, dass Aktivisten nicht über eine zentrale Stelle verfügten, an der Videos und andere in Syrien gesammelten Materialien gespeichert werden konnten. Mögliche Beweise für Kriegsverbrechen gingen verloren. Seitdem haben al-Khatib und sein Team das Jemenitische Archiv und das Sudanesische Archiv gegründet und haben jetzt damit begonnen, das Ukrainische Archiv aufzubauen, um Materialien zu sichern, die von Bellingcat als wichtig eingestuft werden.

"Wir benötigten nur ein paar Tage, um das Ukrainische Archiv einzurichten", erzählt al-Khatib. "Wir wussten, wie wir vorgehen mussten und uns ist bewusst, dass bei der Sicherung des Materials bestimmte Standards und Protokolle beachtet werden müssen."

Soll das Material vor Gericht Bestand haben, muss die Organisation nachweisen können, woher es stammt und dass es nicht manipuliert wurde. "Wir brauchten Jahre, um mit dem Material aus Syrien diesen Stand zu erreichen", erläutert al-Khatib. "Damals haben wir das alles gelernt."

Al-Khatib betont außerdem, dass ukrainische Aktivisten bereits von Mnemonic darin unterwiesen werden, wie sie mit Rohmaterial umgehen müssen. Wissen, dass syrische Aktivisten lange Zeit nicht hatten.

Mit Kriegsverbrechen vertraut

Doch es gibt noch andere unschöne Lektionen, die die Internetrechercheure in Syrien erst mühsam lernen mussten. "Wenn in der Ukraine Streumunition eingesetzt wird, erkennen wir das jetzt schneller", führt al-Khatib aus. "Wir kennen diese Munition aus Syrien. Wir wissen, wie sie sich anhört und dass es viele verschiedene kleine Explosionen gibt, die zeitgleich stattfinden, in einem willkürlichen Muster."

Aufgrund der russischen Angriffe auf zivile Infrastruktur, Krankenhäuser und sogar Bauernhöfe in Syrien konnte Mnemonic ein Verfahren erarbeiten, dass al-Khatib als "verbesserte Musteranalyse" bezeichnet. Er erläutert, dass es bestimmte Anzeichen gibt, die deutliche Hinweise darauf geben, ob zum Beispiel ein Krankenhaus zufällig von russischen Raketen getroffen wurde. "Man muss die Absicht nachweisen können und dafür haben wir jetzt einen klaren Workflow", versichert al-Khatib. "Wir wissen jetzt, wie wir vorgehen müssen, denn das, was 2016 in Aleppo passierte, passiert jetzt in Mariupol und Charkiw."

"Heute passiert in der Ukraine das, was 2016 in Aleppo passierte", sagt der syrische Journalist Al-KhatibBild: Ameer Alhalbi/Getty Images/AFP

Auch die Technik, die zum Einsatz kommt, hat sich stark verändert, fügt Samm Dubberly hinzu. Er leitet das digitale Ermittlungslabor von Human Rights Watch. Sowohl die Kameras der Mobiltelefone als auch der Internetzugang haben sich verbessert. Laut Zahlen der Weltbank hatten vor Ausbruch des Krieges 70 Prozent der Ukrainer Zugang zum Internet.

Mittlerweile werden Open-Source-Ermittlungen auch als glaubwürdig und notwendig betrachtet, macht Dubberley deutlich: "Damals 2011 [als die syrische Revolution begann] versuchten wir noch, herauszufinden, was das alles bedeutet und wie wir es verwenden können. Heute setzen die Gespräche an einem ganz anderen Punkt an. Wir müssen niemanden mehr davon überzeugen, dass diese Arbeit wichtig ist."

Was heute oft als "Open-Source-Intelligence" bezeichnet wird, kommt schon seit dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Damals begannen die Nachrichtendienste, ausländische Medien zu verfolgen. Heute stehen riesige Mengen an Online-Ressourcen, von Social-Media-Plattformen über Flug- oder Schiffstracker bis hin zu Satellitenbildern und unverschlüsselten Gesprächen über Funk oder Telefon zur Verfügung, die von den Internetrechercheuren genutzt werden.

Politischer Wille

Die Ergebnisse von Open-Source-Untersuchungen allein reichen in der Regel nicht aus, um Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen oder um einen "unanfechtbaren" Bericht über einen Vorfall zu veröffentlichen, erläutert Dubberly. Zusätzliche Materialien müssen gesammelt werden, z. B. Berichte von Augenzeugen. Das braucht Zeit.

Flucht aus der urkainischen Stadt IrpinBild: Aris Messinis/Getty Images/AFP

Eliot Higgins von Bellingcat weist darauf hin, dass es mit der zunehmenden Bedeutung und Aufmerksamkeit für diesen Bereich auch mehr Open-Source-Ermittler gibt als je zuvor. "Je größer unser Publikum wird, desto effektiver werden wir als Organisation", sagt er.

Al-Khatib hebt einen weiteren wichtigen Faktor hervor, der - zwischen dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien bis zum Krieg in der Ukraine heute - zur Entwicklung der Open-Source-Ermittlungen beigetragen hat: "Es hängt auch am politischen Willen. Viele europäische Länder und Organisationen leiten derzeit Ermittlungen und Untersuchungen zur Ukraine ein. Bei Syrien war es für uns sehr viel schwieriger, dahin zu kommen. Ich meine, sie sollten sich auch ansehen, was Russland in Syrien getan hat", schließt er. "Für uns ist das sehr wichtig. Es geht um dasselbe, nur in verschiedenen Ländern."

"Viele der Menschen, die jetzt an den Vorfällen in der Ukraine arbeiten, haben gesehen, wie Russland in Syrien damit jahrelang davongekommen ist", klagt Higgins. "Sie sind frustriert und sogar wütend. Das motiviert eine Menge Leute. Sie sehen hier eine Chance, dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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