Bildung in Indien
14. Juni 2012Es war ein historischer Tag für Indien: Am 4. April 2009 wurde in der Verfassung festgeschrieben, dass die Schulbildung von Kindern zwischen sechs und 14 Jahren ein fundamentales Recht ist. Die Schulbildung sei zudem frei und bis zum Alter von 14 Jahren Pflicht, hieß es. Nur eine gute Ausbildung der Kinder könne Indien weiteres Wirtschaftswachstum und den Aufstieg zur Supermacht garantieren, wird der indische Premierminister Manmohan Singh nicht müde zu betonen. "Wir müssen ihnen eine gute Zukunft bieten, denn nur dann wird unsere Bevölkerung zu unserer größten Waffe werden."
Trotz aller guten Vorsätze sieht die Realität in Indien ganz anders aus. Von den Schulen im Land sind etwa 80 Prozent in staatlicher Hand. Bei routinemäßigen Überprüfungen kommt immer wieder ans Licht, dass in einigen der ärmeren Bundesstaaten fast vierzig Prozent der Lehrer nicht regelmäßig zum Dienst erscheinen. Das Problem sind die geringen Löhne: Ein Grundschullehrer verdient im Schnitt um die 12.000 Rupien im Monat, das sind weniger als 200 Euro.
Düsteres Bild
Da so viele Lehrer fehlen, sitzen in mehr als der Hälfte der Klassen in ländlichen Regionen Schüler unterschiedlicher Jahrgangsstufen zusammen, oft in Klassenstärken von 50-80 Schülern. Der Unterricht besteht nicht selten aus einem stupiden Auswendiglernen. Die renommierte Erziehungswissenschaftlerin Indu Shahani aus Mumbai, die seit über 30 Jahren in vielen Gremien zur Verbesserung des Schulsystems sitzt, ist dennoch optimistisch. "Indische Schüler wollen lernen, egal welche Hürden ihnen in den Weg gelegt werden", betont Shahani.
Bildung gilt in Indien als Statussymbol. Daher versuchen die Eltern alles, um ihren Kindern eine gute Ausbildung auf einer Privatschule zu ermöglichen. Auch, wenn sie nur über ein geringes Einkommen verfügen und selbst teilweise nie eine Schule besucht haben. Viele verschulden sich.
Bildungsausgaben zu gering?
Die indische Regierung weiß durchaus, dass die Ausbildung der gesamten Bevölkerung ein großes Problem ist. Immer wieder steht sie in der Kritik, ihr Budget für Bildung sei zu knapp bemessen. Im aktuellen Haushalt liegt es bei 7,8 Milliarden Euro. Das sind weniger als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch wenn Indien weltweit noch die meisten Analphaten hat, gibt es doch Fortschritte. So stieg die Zahl der Menschen, die lesen, schreiben und rechnen können, in den vergangenen zehn Jahren immerhin von 65 Prozent auf 74 Prozent.
Die Pädagogin Indu Shahani glaubt nicht, dass höhere Bildungsausgaben die vielfältigen Probleme Indiens lösen können. "Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass Bildung und Gesundheit die drängendsten Probleme Indiens sind", sagt sie. "Doch einfach nur Geld in das System hineinzubuttern, bringt nichts. Man muss viele Strategien der Zeit anpassen."
Elite wettbewerbsfähig
Lange Jahre investierte man vor allem in die Eliteuniversitäten, wie etwa die "Indian Institutes of Technology", die jährlich 8000 Studenten der Ingenieurwissenschaften eine Weltklasseausbildung bieten. Nur zwei Dutzend Universitäten werden von der Zentralregierung gefördert. Mehr als 200 Hochschulen und etwa 20.000 Colleges finanzieren die jeweiligen Bundesstaaten. Das ist viel zu wenig, denn noch nicht einmal zehn Prozent der Schüler, die nach der Schule weiter studieren könnten, ergattern einen Studienplatz. Die Zeitungen sind voll von Selbstmorden junger Studenten in der Prüfungszeit, die den hohen Erwartungen ihrer Familie nicht standhalten konnten.
Die wenigen, die jedes Jahr ihren Uni-Abschluss machen, gehören also wirklich zu Indiens Elite. Viele dieser Topabsolventen zieht es daher in die USA, nach Großbritannien, Australien oder Kanada, wo sie sich aufgrund ihrer exzellenten Englischkenntnisse schnell heimisch fühlen. Um diesen "Brain-Drain" zu stoppen, legte der indische Gesundheitsminister Ghulam Nabi Azad jüngst einen neuen Plan vor. Danach soll jeder Medizinstudent, der für weiterführende Studien in die USA geht, zurück nach Indien kommen, sonst darf er in den USA nicht praktizieren. "In den letzten drei Jahren haben wir fast 3000 Ärzte an die USA verloren", mahnt Nabi Azad.
Mädchenbildung größte Herausforderung
Obwohl Indien mit Premierministerin Indira Gandhi schon in den 1970er Jahren eine Frau an der Spitze des Landes hatte, sind Frauen in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens unterrepräsentiert. Die Diskriminierung beginnt spätestens dann, wenn es um die Schulbildung geht. In kinderreichen Familien wird die Schulbildung von Mädchen oft zugunsten der Schulbildung von Jungen geopfert.
In einer patriarchalischen Gesellschaft wie der indischen hält sich hartnäckig das Vorurteil, im hohen Alter könnten nur die Söhne die Familie versorgen. Die Mädchen würden ja verheiratet und seien dann nicht mehr Teil der Familie. Indu Shahani hat darauf eine einfache Antwort: "Man kann es nicht oft genug sagen: Bildet man einen Jungen aus, so investiert man in ein Individuum. Doch wenn man ein Mädchen zur Schule schickt, dann investiert man in eine Familie und manchmal sogar in ein ganzes Dorf."