Die neue Lust am Buch: Lesen in digitalen Zeiten
20. Oktober 2019Bücher übers Buch: ein Trend, der zunimmt. Diesen Eindruck bekommt man beim Schlendern durch die Hallen der Buchmesse und bei einem Blick auf die Auslagen der Verlage. Es werden vermehrt Bücher übers Lesen und Schreiben veröffentlicht. Es scheint, als ob man sich im Zeitalter des digitalen Wandels der Wichtigkeit des Kulturguts "Buch" neu vergewissern möchte. Die Umsatzzahlen, die alljährlich Auskunft geben über Buchverkäufe und Auflagen, sind nicht überragend, aber auch nicht mehr so besorgniserregend, wie noch vor ein paar Jahren. Steht das von manchen schon abgeschriebene klassische Buch vor einem Comeback?
Bücher erschließen neue Denkräume
Das "neue" Interesse am Buch ist an vielen Orten, in Gesprächen und Diskussionsforen, zu spüren. "Die Lust am Buch" heißt ein kleines, lesenswertes Kompendium rund ums Buch, verfasst vom Wissenschaftshistoriker Michael Hagner: "Der Titel ist programmatisch, aber eher in dem Sinne, dass 'Lust am Buch' für mich einen Zugang zur Welt bedeutet, der spezifische Erlebnis- und Denkräume öffnet, von denen man ohne Bücher keine Ahnung hat", sagt Hagner gegenüber der Deutschen Welle.
Bücher als Türöffner für neue "Denkräume", das ist auch ein Ergebnis einer neuen, bzw. wiedererstarkten Lust am "schönen Buch". Zwar sei auch das kein ganz neues Phänomen, bemerkt Hagner und erinnert an die 1980er Jahre und die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Buchreihe "Andere Bibliothek": "Damals hatte man genug von den zahllosen billig produzierten Taschenbüchern. Heute scheint mir ein wachsendes Interesse dafür zu bestehen, wie die Buchkultur auf die digitale Omnipräsenz reagiert. Originelle und sorgfältig gestaltete Bücher sind eine Antwort, und das wird honoriert."
Die neue digitale Vielfalt birgt auch Risiken für die Leser
"Offenheit ist im Allgemeinen das Tor zur Dummheit" liest man in Hagners Buch. Was meint er damit? Das sei ein Zitat des französischen Denkers Roland Barthes, das er ein wenig verfremdet habe: "Mit geht es um eine Kritik derjenigen, die behaupten, Offenheit, Transparenz und permanente Zugänglichkeit aller Texte im Netz garantieren automatisch Bildung und Demokratie." Das sei "auf schmerzliche Weise durch die Realität falsifiziert worden." Offenheit sei zu einem Fetisch geworden: "Das halte ich für dumm."
Das Buch also als Mittel, sich anders und womöglich besser mit Texten jeglicher Art zu befassen? Hinweise auf eine neue Lust am Lesen, am Buch, finden sich auch bei anderen Autoren und Autorinnen. "Lesen Schreiben Atmen" heißt die neueste Buch-Veröffentlichung der Regisseurin und Schriftstellerin Doris Dörrie, auch das ein Band über das Lesen und das Schreiben.
"Lesen Schreiben Atmen" ist Schreibanleitung und Lebenserinnerung
Seit vielen Jahren unterrichtet Dörrie Schreiben an Hochschulen, sie weiß Bescheid über den Zusammenhang zwischen Lesen und Schreiben: "Unser Gehirn ist doch sehr stark auf Konsum ausgelegt. Wir lieben bewegte Bilder und es ist sehr schwer, sich von bewegten Bildern wieder zu etwas zuzuwenden, was nur Text ist", erzählt Dörrie, die seit Jahren auch eine erfolgreiche Filmregisseurin ist und sich somit mit bewegten Bildern bestens auskennt.
Vom Bewegtbild wieder zurückzufinden zur nüchternen Textzeile, keine einfache Sache: "Das ist kompliziert, weil unser Gehirn so wahnsinnig gern konsumiert. Und das Lesen ist doch eine andere, aktivere Tätigkeit, als Bilder anschauen", meint Dörrie. Das müsse man wieder trainieren: "Wenn man aber schreibt, dann trainiert man auch gleichzeitig das Lesen."
"Lesen Schreiben Atmen" ist eine Anleitung zum Schreiben für Jedermann, ein Mutmacher, selber zu schreiben, gleichzeitig aber auch ein sehr ehrliches, auch trauriges Erinnerungsbuch der Autorin, das vielen Lesern zu Herzen gehen dürfte. Es sei ihr wohl persönlichstes Buch geworden, sagt Dörrie im DW-Gespräch.
Doris Dörrie: "Nach bewegten Bildern muss ich mir einen Ruck geben"
Den Neuen Medien versperrt sie sich keinesfalls. Auch sie nehme ihr E-Book mit auf Reisen, erzählt sie, das sei praktisch, man könne so viele Titel mitnehmen. Doch auch die Autorin Dörrie plädiert für das Kulturgut Buch: "Ich mag es doch sehr, sehr gern, Papier in die Hand zu nehmen und so ein richtiges Buch. Ich lese dann anders, ich lese länger und konzentrierter, wenn ich keinen Ausweg habe." Wenn sie ein Buch elektronisch lese, was sie meist am I-Pad mache, dann werde man abgelenkt: "Ich kann mal kurz schauen, was ist grade los auf Instagram? Was ist grad los auf Facebook? Was ist grad irgendwo auf der Welt los?"
Dörrie gesteht: "Sogar ich muss mich dabei etwas überwinden, weil ich merke, wenn mein Gehirn sich zu lange an die bewegten Bilder gewöhnt, dann muss ich mir einen Ruck geben um mir wieder Texte zu Gemüte zu führen. Das ist tatsächlich eine Trainingssache."
Eine Buch-Lektüre ist etwas anderes als das Lesen vor der Mattscheibe. Das bestätigt auch Michael Hagner: "Alle mir bekannten empirischen Untersuchungen zum Lesen stellen fest, dass das Lesen gedruckter Texte zu einem besseren, nachhaltigen Verständnis führt. Anders gesagt: durch digitales Lesen ist niemand zu einem aufmerksameren, besseren Leser geworden. Durch die Kombination analoger und digitaler Lesepraktiken sind einige aber wohl zu variableren Lesern geworden."
"Deutschlands belesenster Zahnarzt" schreibt Buch über 1500 Bücher
Und was soll man nun lesen in diesen Zeiten, in denen das Angebot von allen Seiten ununterbrochen auf einen einströmt? Auch darüber geben viele neue Bücher Auskunft. Eines der sicher originellsten in diesem Herbst heißt "Der Lesebegleiter - Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher". Verfasst hat es der manische Leser Tobias Blumenberg, Sohn des berühmten deutschen Philosophen Hans Blumenberg. Sein Vater habe ihn als Kind mit Erich Kästner und Honoré de Balzac zwei unvergessliche Vorleseerlebnisse beschert, erinnert sich der Sohn.
Schon vor ein paar Jahren hat Tobias Blumenberg das Buch in einer kleinen Auflage im Selbstverlag verkauft. Dann war es ausverkauft. Nach einer jahrelangen irrwitzigen Odyssee durch die Verlags- und Buchbranche ist "Der Lesebegleiter" jetzt in einem renommierten Verlag erschienen und bekommt die Aufmerksamkeit, die das Buch verdient. Deutschlands bekanntester Literaturkritiker Denis Scheck bewirbt den 800-Seiten-Buchbrocken.
Blumenberg, der hauptberuflich als Zahnarzt sein Geld verdient, hat sein Lese-Leben aufgezeichnet, hat all das zwischen zwei Buchdeckeln zusammengetragen, was ihn fasziniert und begeistert: "Ich bin kein Fachmann, kein Fachmann für gar nichts, außer für Implantat-getragene Brücken, die von einem Ohr bis zum anderen reichen", gibt er launig zur Antwort auf die Frage, welche Kriterien er denn gehabt habe beim Verfassen seines Buches über die Welt der Bücher.
Blumenberg urteilt nicht, sondern gibt seine Begeisterung weiter
Über die alten und neuen Klassiker liest man da, über Bekanntes und Unbekanntes, all das, was Tobias Blumenberg gern gelesen hat, auf rund 1500 Bücher kommt er. Er sehe sich als "Dilettant", habe nur ein Buch geschrieben über seine eigenes persönliches Leseleben, doziert er bescheiden: "Ich gebe weder Urteile ab, noch sehe ich irgendetwas voraus, sondern ich schildere was sich bei mir abspielt, wenn ich lese, was ich für Bücher empfinde, wenn ich sie konsumiert habe, aber ich bin niemand, der irgendwas objektiv beurteilt."
Und wie hält er es mit dem Lesen in digitalen Zeiten, wie werden die Menschen in Zukunft Romane und Erzählungen lesen? "Ich glaube, dass es darauf ankommt, welche Geschichten man ihnen erzählt", gibt Blumenberg zu bedenken: "Gute Geschichten haben immer Konjunktur. Wer glaubt, dass er mit minderwertigen Druckprodukten ankommen kann, der wird Schiffbruch erleben."
Natürlich liest auch er am Bildschirm, doch "Deutschlands belesenster Zahnarzt" (Klappentext des Verlags) ist wie Hagner und Dörrie ein Fan des gedruckten Buches: "Das sind zwei völlig verschiedene Welten, ich muss natürlich auch am Bildschirm lesen, aber für mich ist das eine ständige Qual", sagt Blumenberg. Er habe das Gefühl, "dass der Bildschirm einen stärker kontrolliert als das Buch, und dass umgekehrt, die Freiheit des gedruckten Buches praktisch grenzenlos ist."
Zumindest sei das so "bis zu dem Augenblick, wo ich in der Lage bin, es in die Ecke zu pfeffern, was ja auch manchmal vorkommt." Und das könne "man mit seinem Bildschirm nur einmal machen." Dem ist nicht zu widersprechen. Auch ein Vorteil des guten alten Buches…
Zum Weiterlesen: Michael Hagners "Die Lust am Buch" ist bei Insel erschienen, Dörries "Lesen Schreiben Atmen" bei Diogenes und Blumenbergs "Der Lesebegleiter" bei Kiwi. Ein weiteres Buch über das Lesen und das Schreiben ist im DuMont Verlag herausgekommen und heißt: "Lesezeit - Unterwegs, Lektüre für jedes Zeitfenster".