Zum deutschen Filmstart von "Leto"
5. November 2018Für viele Westeuropäer dürfte es einer der Kinohöhepunkte des Jahres sein: Kirill Serebrennikows Film "Leto", der bei den Filmfestspielen im Mai in Cannes Welturaufführung feierte und dort auch ausgezeichnet wurde. Seither ist er auf einigen internationalen Festivals sowie in Ungarn, Polen und Estland in den Kinos zu sehen gewesen. Nun startet er in Deutschland (8. November), später dann in Italien und Frankreich.
Auch in Russland schaffte "Leto" im Sommer (7. Juni) den Sprung in die Arthaus-Kinos. Dort wurde er von vielen begeisterten Kritikern besprochen. Auf den Tag fünf Monate später (7. November) müssen sich Serebrennikow und drei seiner Mitarbeiter in Moskau vor Gericht verantworten. Dem Regisseur wird die Unterschlagung staatlicher Gelder vorgeworfen. Angeblich soll er Fördergelder, die für Theateraufführungen vorgesehen waren, missbraucht haben.
Wird an Kirill Serebrennikow ein politisches Exempel statuiert?
Für viele Mitstreiter des Regisseurs steht allerdings fest: An Kirill Serebrennikow soll ein Exempel statuiert werden. "Natürlich handelt es sich um repressive Maßnahmen, Einschüchterung, um eine absolut beispiellose und nicht nachvollziehbare Brutalität", sagte der russische Filmkritiker und Journalist Anton Dolin in einem DW-Gespräch im August dieses Jahres. Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew äußerte sich ähnlich, sprach von einem "eklatanten Beispiel für einen Schauprozess: Seine Qualen im Laufe des Jahres, beginnend mit der brutalen nächtlichen Verhaftung in Sankt Petersburg, der brutalen Verlegung nach Moskau, dem Käfig, in dem er im Gericht sitzen musste, bis hin zum Hausarrest, der immer wieder verlängert wird: All das ist eine Kreuzigung."
Den Behörden gilt der 1969 geborene Regisseur schon seit längerem als politisch nicht opportun. Der Hausarrest wurde kurz vor Prozessbeginn noch einmal verlängert. Bis April 2019 darf Serebrennikow seine Moskauer Wohnung nicht verlassen, Kontakte zur Außenwelt sind ihm strikt untersagt - Gespräche dürfen nur mit seinem Anwalt und seinem Vater geführt werden. Auch der Zugang zum Internet wurde dem Künstler gesperrt.
Andreas Homoki: "Serebrennikows Kunst soll und kann für sich sprechen."
Umso erstaunlicher, dass Serebrennikow, in Russland und Westeuropa seit vielen Jahren auch als Theater- und Opernregisseur eine feste Größe, in dieser Situation überhaupt noch arbeiten kann. Noch am Wochenende wurde am Opernhaus Zürich Mozarts "Così fan tutte" aufgeführt, Co-Regie: Kirill Serebrennikow. Mit Hilfe seiner künstlerischen Mitarbeiter, allen voran Jewgeni Kulagin, und mit Videobotschaften Serebrennikows, feierte die Mozart-Oper am 4. November in Zürich Premiere.
Eine Oper in Zürich, ein Filmstart in Deutschland - Inszenierungen eines in seiner Heimat drangsalierten Künstlers in Westeuropa: Wie kann das gehen? Und vor allem: Wofür stehen die künstlerischen Werke? Der Zürcher Opern-Intendant Andreas Homoki sagte kurz vor der Schweizer Premiere in einem Interview der "Neue(n) Zürcher Zeitung", er habe unbedingt den Eindruck vermeiden wollen, dass sein Haus lediglich "auf eine aktuelle Polit-Geschichte" setze. Und: "Serebrennikows Kunst soll und kann für sich sprechen."
Alle Fans des Kinos und diejenigen, die vor allem am Oeuvre des Kino-Regisseurs Kirill Serebrennikow interessiert sind, dürfen sich nun freuen. "Leto" kommt trotz der Repressalien in Russland in die deutschen und westeuropäischen Kinos. Es ist eine filmische Offenbarung.
"Leto" (zu Deutsch: Sommer) blendet zurück in die Stadt Leningrad (heute: St. Petersburg) in die 1980er Jahre. Es ist vor allem die Geschichte zweier Musiker, Viktor Zoi (Teo Yoo) und Mike Naumenko (Roma Zver), die Serebrennikow hier erzählt - und die einer Frau zwischen diesen beiden Männern: Natascha Naumenko, Ehefrau von Mike, ebenso überzeugend gespielt von Irina Starshenbaum.
"Leto" ist auch ein Film über legendäre russische Rockmusik
Dabei orientiert sich "Leto" an wahren Begebenheiten. Der eine, Viktor Zoi, war in der Sowjetunion ein bekannter Sänger und Mitbegründer der legendären Rock-Band "Kino". Mike Naumenko, ein paar Jahre älter, ebenfalls ein bekannter Musiker, spielte in der russischen Rockband "Aquarium" und begründete später "Zoopark", auch das eine inzwischen legendäre Rockcombo. Beide starben früh, Zoi kam 1990 mit 28 Jahren bei einem Autounfall ums Leben, Naumenko starb ein Jahr später, vermutlich an einem Schlaganfall, mit 36 Jahren.
"Leto" schildert die Begegnung dieser beiden charismatischen Persönlichkeiten, zeigt die Liebe der beiden zu einer Frau, erzählt von Musik und Konzerten in einer Zeit kurz vor Glasnost und Perestroika, von einem Lebensgefühl junger Menschen zwischen Aufbruch und Auflehnung. "Es ist die Geschichte des letzten Sommers vor der Perestroika, vor der völligen Umwandlung ihrer Lebenswelt in das heutige Russland", umschrieb Serebrennikow den tieferen Sinn seines Films im Jahre 2017, noch bevor die Dreharbeiten begannen.
Ist "Leto" nun ein dezidiert politischer Film? Ein Film, der die scharfen Reaktionen der russischen Behörden - zumindest aus deren Perspektive - "nachvollziehbar" machen würde? Ja und nein.
Auch eine universelle Geschichte über das Gefühl der Jugend weltweit
Ganz sicher nicht - weil "Leto" nichts anderes erzählt als die Geschichte von jungen Menschen in einem bestimmten Alter, von ihren Sehnsüchten und Träumen, vom Erwachsenwerden inmitten gesellschaftlicher Erwartungen. Es ist eine universelle Geschichte, wie sie überall auf der Welt ähnlich erzählt werden könnte.
Auf der anderen Seite darf man aber auch sagen: Ja, "Leto" ist ein politischer Film, gerade weil er auch von Auflehnung und jugendlicher Verstörung erzählt, vom Aufbegehren gegen die Vätergeneration, von dem Willen, bestehende Konventionen aufzubrechen. Und da "Leto" auch ein Film über Musik ist (im Übrigen auch über die aus dem Westen, die bei Serebrennikow eine große Rolle spielt), arbeitet in ihm die aufwühlende Kraft und Emotion von Rock und Punk.
"Serebrennikows Kunst soll und kann für sich sprechen" - die Aussage des Zürcher Opernintendanten ließe sich auch auf "Leto" übertragen. Der Film ist ein Kunstwerk, birgt aber auch eine Menge subversiver (gesellschaftspolitischer) Botschaften. "Das war es, was mich zuerst an dieser Geschichte fasziniert hat: ihre Unschuld und Reinheit", sagt Serebrennikow über seinen Film. Seine Generation habe eine starke Erinnerung an die Energie der Perestroika. Aber, so der Regisseur, "in Wirklichkeit wissen wir nichts von der Generation vor unserer eigenen - von ihrer natürlichen Gabe zur Rebellion und ihrem inneren Feuer."
Serebrennikow: "Film über absolute künstlerische Freiheit"
Der Regisseur erzählt in "Leto" ganz bewusst nur von den Bühnenjahren der Musiker, nicht von deren frühen, tragischem Ende: "Mein Ziel ist es, einen Film über Menschen zu machen, die glücklich sind und absolute künstlerische Freiheit genießen, trotz der Unterdrückung durch die Regierung.(…) Wir beleben eine Kultur, die für die Mächtigen und staatlichen Kulturrichtlinien inakzeptabel ist, in genau derselben Weise wie Leningrad 1983 weder die Zeit noch der Ort für Rockkultur in der UdSSR war." - Sätze, die Serebrennikow vor Beginn der Dreharbeiten sagte.
Die konnte der Regisseur später nur mit Hilfe seiner Mitstreiter aus der Ferne begleiten. Im August 2017 wurde er festgenommen und anschließend unter Hausarrest gestellt. Die Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 konnte er somit nicht wahrnehmen. In der Folge wurden zahlreiche Petitionen ("Freiheit für Kirill Serebrennikow") gegen die Maßnahmen der russischen Behörden unterzeichnet. Zu den über 54.000 Unterzeichnern gehören Oscarpreisträger Volker Schlöndorff, Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und Hollywoodstar Cate Blanchett.
Serebrennikows Appell: "Haltet auch ihr durch!"
Bei seiner letzten Anhörung vor Gericht bedanke sich Serebrennikow für die Unterstützung aus dem In- und Ausland: "Ihr wünscht mir immer die Kraft, das alles durchzuhalten, und ich wünsche euch dasselbe. Haltet ihr auch durch, denn das ist ganz wichtig für mich. Ich bin bereits in der Mühle, aber ich werde alles tun, um zu verhindern, dass diese Mühlsteine mich zermalmen." - Nun beginnt am 7. November der Prozess gegen den Regisseur und Künstler Kirill Serebrennikow.