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Lettlands "kleine Krim"

Jutta Schwengsbier, Toms Ancitis26. März 2014

In Lettlands Osten wird ein Anschluss an Russland diskutiert, jeder Dritte ist hier russischer Abstammung. Vor allem die Älteren sehnen die alten Sowjetzeiten wieder herbei.

Das Stadtzentrum von Daugavpils (Foto: Toms Ancitis)
Bild: Toms Ancitis

Nach dem Krim-Referendum spitzt sich die Lage auch in der Ostukraine zu. Pro-russische Parteien machen Stimmung und fordern ein Referendum zur Autonomie der Donezk-Region. Doch während die EU noch um eine geeignete gemeinsame Antwort ringt, beginnen auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hitzige Debatten über Grenzen und Identitäten.

Wichtige russische Minderheit

Daugavpils ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Eine 500 Kilometer lange Bahnstrecke verbindet die zweitgrößte Stadt Lettlands mit Sankt Petersburg. Minsk ist nur 400 Kilometer entfernt. Wegen seiner geographischen Nähe zu Russland und Weißrussland lebt in Daugavpils schon seit Jahrhunderten eine große russische Minderheit, erklärt Dmitrij Olechnovitsch, Historiker an der Universität Daugavpils. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei Lettland ziemlich brutal industrialisiert worden. "Dadurch sollte die lettische Bevölkerung zugleich sowjetisiert und russifiziert werden. Dazu wurden viele russische Fachkräfte nach Daugavpils geschickt."

Noch heute ist keine andere Stadt innerhalb der EU so von Russen geprägt wie Daugavpils. Nur jeder fünfte der 100.000 Einwohner hier ist Lette. Der Rest sind Russen oder andere Nationalitäten. Lettisch spricht in Daugavpils fast niemand.

Dmitrij Olechnovitsch: "Daugavpils wurde gezielt sowjetisiert und russifiziert"Bild: Toms Ancitis

Hitzige Grenzdebatten

Kein Wunder also, dass Aktivisten, die sich für die Rechte der russischen Minderheit in Lettland einsetzen, in Daugavpils immer viele Unterstützter finden. Sogar die Idee einer eigenen autonomen Region im Osten Lettlands wurde dort im vergangenen Jahr diskutiert. Bei einem Referendum waren im vergangenen Jahr 85 Prozent der Stimmberechtigten dafür, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Deswegen warnen nun lettische Rechtspolitiker: Daugavpils sei Lettlands "kleine Krim". Würde dort abgestimmt wie auf der Krim, wäre die Mehrheit sicher auch für einen Anschluss an Russland.

Jevgenij Zarew, Abgeordneter im Stadtrat, findet das übertrieben. Der Russe kann aber nicht leugnen, dass die Ereignisse in der Ukraine auch die Stimmung in Daugavpils in den letzten Wochen angeheizt haben. "Die Russen hier fühlen sich durch die Ereignisse auf der Krim gestärkt", beobachtet der Politiker. "Sie sind selbstbewusster, weil sie nun wissen, dass Russland stark ist und sich auch für sie einsetzen könnte, wenn es notwendig wäre. 99 Prozent unserer Russen schauen russisches Staatsfernsehen. Natürlich beeinflusst diese Propaganda, was die Leute hier denken." Die Frage, ob Russland auf der Krim Russen befreit hat oder einen Teil der Ukraine besetzt, ist derzeit Gegenstand heftiger Debatten in ganz Lettland. Einige Letten fordern deshalb inzwischen sogar, die Ausstrahlung des russischen Staatsfernsehens über den lettischen Fernsehkabelkanal zu verbieten.

Das Rathaus in DaugavpilsBild: Toms Ancitis

Vor allem eine Generationenfrage

Wie Mihail Grischakow finden viele in Daugavpils, Putin habe absolut richtig gehandelt. Bei einem Referendum in Ost-Lettland würde der 43-jährige Bauarbeiter auch für einen Anschluss an Russland stimmen. Er erklärt das mit einer Frage: "Warum kümmert sich Riga nur um die westlichen Regionen Lettlands?", fragt Grischakow sichtlich entrüstet. "Dort werden neue Häuser, Schulen und Schwimmbäder gebaut. Bei uns, im Osten Lettlands, stehen nur Ruinen. Nichts wird repariert. Alles bricht zusammen." Das Leben in Russland sei zwar nicht viel besser, muss Grischakow dann zugeben. Doch in Russland habe er eine größere Chance, einen Job zu finden.

Die pro-russische oder pro-europäische Einstellung in der Bevölkerung sei vor allem eine Generationenfrage, urteilt Historiker Olechnovitsch. Während jüngere Russen die Reisefreiheit oder andere Vorzüge der EU genießen, sehnten sich Ältere nach der vermeintlich guten alten Zeit der Sowjetunion zurück. "Sehr viele vermissen immer noch ihre verlorene Welt", glaubt Olechnnovitsch. "Sie denken an die Sowjetunion zurück wie an ein verlorenes Paradies mit kostenloser Gesundheitsversorgung, Jobs, niedrigen Wohnungskosten."

Bild: Toms Ancitis

Die Toleranz ist schon verschwunden

Wer wie Vita Jahimovitscha weder "für" noch "gegen" Russland ist, fürchtet trotzdem negative Auswirkungen. Die Toleranz zwischen Letten und Russen sei mit der Krimkrise einfach verschwunden. "So viele Jahre hatten wir uns bemüht, freundlich und tolerant miteinander umzugehen. Wenn russische Rentner nicht mehr Lettisch lernen konnten, hatten die Letten das langsam akzeptiert", seufzt Jahimovitscha. Mit der Krim-Krise sei die bislang in Lettland weit verbreitete Toleranz einfach verschwunden. "Die Leute denken wieder schwarz und weiß", sagt Jahimovitscha. "Die Auswirkungen sind sehr negative. Das ist wirklich schade."

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