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Politik

"Letzte Adresse" für Opfer des Stalinismus

Vladimir Esipov mo
6. September 2019

Es ist die erste Gedenktafel für Verfolgte des Sowjet-Regimes in Deutschland. Eine russische Stiftung greift das Prinzip der Stolpersteine auf und zeichnet ein Haus in Thüringen als "letzte Adresse" aus.

Treffurt  Thüringen
Die erste Gedenktafel des Projekts "Letzte Adresse" in Deutschland wurde in Thüringen angebrachtBild: DW/V. Esipov

Tanja Hartmann hat eine Rede auf zwei Seiten vorbereitet. Doch nach den ersten Sätzen kommen ihr die Tränen. Auch ihre Mutter weint. Sie hält eine kleine Platte aus verzinktem Stahl mit einem ausgestanzten Quadrat in den Händen.

Auf der 11 mal 19 Zentimeter großen Schild steht: "Hier lebte Heinz Baumbach, Installateur, geboren 1926, verhaftet 10.05.1952, zum Tode verurteilt 16.07.1952, in Moskau erschossen 23.10.1952, rehabilitiert 1996."

Es ist die 980. Gedenktafel der russischen Stiftung "Letzte Adresse". In Deutschland kommt der am 30. August eingeweihten Gedenktafel eine besondere Bedeutung zu, weil es das erste Exemplar ist.

Für die Familie von Tanja Hartmann ging damit eine langjährige Suche nach ihrem Großvater Heinz Baumbach zu Ende. Er verschwand am 10. Mai 1952 spurlos, nachdem ihn ein örtlicher Polizist aufgefordert hatte ins Rathaus zu kommen.

Tanja Hartmann (r.) mit ihrer Mutter Hannelore Schwanz (l.)Bild: DW/Vladimir Esipov

"Hau ab in den Westen!"

Die Mutter von Heinz Baumbach ahnte Schlimmes und sagte zu ihm: "Hau ab in den Westen!" Damals stand die Mauer noch nicht, die unbewachte innerdeutsche Grenze war nur wenige Minuten vom Haus entfernt. Doch Heinz, der sich keiner Gefahr bewusst war, ging zum Rathaus.

Sechs Monate später wurde Baumbach von einem sowjetischen Militärgericht wegen "anti-sowjetischer Aktivitäten" verurteilt und erschossen. An seiner letzten Adresse im thüringischen Treffurt wurde ihm nun bescheiden, aber sehr bewegend gedacht.

Erst vor wenigen Wochen erfuhr Tanja Hartmanns Familie dank dem in Berlin lebenden und aus Russland stammenden Journalisten Mario Bandi vom Projekt "Letzte Adresse". Seit 1993 hatte die Familie versucht, etwas über das Schicksal ihres vermissten Großvaters zu erfahren. "Natürlich haben wir keine Minute gezögert. Das ist die letzte große Ehre, die wir Heinz Baumbach erweisen können", sagt Tanja Hartmann.

Über das Schicksal von Opfern stalinistischer Repressionen in der DDR habe nie jemand gesprochen oder sprechen dürfen, betont Hartmann. 1966 sei in Treffurt eine gefälschte Sterbeurkunde aus Moskau eingegangen, wonach Heinz Baumbach 1954 eines natürlichen Todes gestorben sein soll. Doch 30 Jahre später, 1996, sei dann aus Moskau ein Rehabilitierungsbescheid gekommen, berichtet seine Enkelin.

Opferverbände in Deutschland

Die erste "Letzte Adresse" in Deutschland wurde dank der Berliner "Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion" ausfindig gemacht. Die Organisation ist Mitglied im deutschen Dachverband der "Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft". Das Kürzel GULag bezeichnet das Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion, von denen sich eines im nordrussischen Workuta befand.

Stefan Krikowski, Koordinator der "Lagergemeinschaft Workuta", ist Sohn des DDR-Bürgers Johannes Krikowski, der Anfang der 1950er Jahre Opfer von Repressionen wurde. Als junger Mann habe er freie und geheime Wahlen gefordert, berichtet Stefan Krikowski. Schließlich sei sein Vater wegen angeblicher Spionage für den französischen Geheimdienstes zu 25 Jahren Haft in Workuta verurteilt worden. Als sich Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 mit der Sowjetregierung über die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen einigte, kamen auch mehrere tausend politische Gefangene frei, darunter Johannes Krikowski.

Sein Vater habe bis zu seinem Tod im Jahr 2007 unter posttraumatischen Belastungsstörungen gelitten, sagt Krikowski. Um ein wenig nachvollziehen zu können, was sein Vater durchgemacht hat, reiste er 2013 mit drei ehemaligen GULag-Häftlingen aus der DDR nach Workutan. Er sehe es als seine Pflicht an, sich dem Gedenken der GULag-Opfer in Deutschland zu widmen, so Krikowski.

Gedenkfeier vor dem Haus in thüringischen TreffurtBild: DW/V. Esipov

Zusammenarbeit mit Memorial

Nikolaj Iwanow ist Kurator des Projekts "Letzte Adresse" in Sankt Petersburg, das es seit 2014 gibt. Ihm zufolge ist Deutschland jetzt das sechste Land, in dem es eine Gedenktafel gibt. "Wir wollen auf das Schicksal eines ganz normalen Menschen hinweisen und zeigen, wie leicht es war, Strafsachen zu fälschen", sagt er. Mit der Gedenktafel solle daran erinnert werden, dass es auch in Deutschland unschuldige Opfer des sowjetischen Staatsterrors gab.

Die russische Stiftung "Letzte Adresse" arbeitet mit Memorial Deutschland zusammen, dem deutschen Zweig von Memorial International. Ziel der Organisation ist, die Gewaltherrschaft des Stalinismus aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken.

Anke Giesen von Memorial Deutschland zeigt sich zufrieden mit dem Projekt "Letzte Adresse". "Es wurde nochmal deutlich, was es für Familien ausmacht, wenn ein Mitglied einfach verschwindet und man jahrelang nichts hört", sagt sie ergriffen. Dieser Schmerz werde von Generation zu Generation weitergegeben.

Giesen zufolge wollen Memorial-Aktivisten an weiteren Häusern Gedenktafeln anbringen lassen. Aber im Unterschied zu den "Stolpersteinen", die an Opfer des Holocaust erinnern und ein Vorbild für das Projekt "Letzte Adresse" sind, ist für die Anbringung einer Tafel die Zustimmung des Hausbesitzers erforderlich. Diese sei nicht immer leicht zu bekommen.

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