Gudkow: "Wir leben in einer undemokratischen Gesellschaft"
17. Januar 2018Deutsche Welle: Herr Gudkow, Ihr Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum wird vor den Präsidentschaftswahlen in Russland keine Umfragen zu Wahlthemen veröffentlichen. Wie ist es dazu gekommen?
Lew Gudkow: Wir können sie nicht veröffentlichen, weil wir aufgrund einer Entscheidung des Justizministeriums in das Register der sogenannten "ausländischen Agenten" eingetragen wurden. Das russische Gesetz über Non-Profit-Organisationen setzt die Durchführung soziologischer Untersuchungen mit politischer Aktivität gleich. Deshalb dürfen wir das laut Gesetz nicht tun. Uns drohen Geldstrafen, Verfolgung und sogar die Schließung unserer Organisation.
Werden Sie denn weiterhin Umfragen durchführen?
Wir werden Umfragen durchführen, sie aber während des Wahlkampfes nicht veröffentlichen. Danach werden wir, so hoffe ich, sie alle analysieren können und sie einem interessierten Publikum in einer Studie vorstellen.
Warum wurde Ihre Organisation in das Register der "ausländischen Agenten" eingetragen?
Wir waren das einzige noch übrig gebliebene große Meinungsforschungsinstitut. Alle anderen dienen den Interessen des Kremls und arbeiten für ihn. Wir sind eine unabhängige Organisation und wir zeigen ein komplexeres Stimmungsbild in der Gesellschaft, was dem Kreml nicht gefällt. Daher wurden wir unter Druck gesetzt. In den vergangenen 15 Jahren, nach der Machtübernahme durch Wladimir Putin, wurde auf uns in der einen oder anderen Form Druck ausgeübt. 2013 gab es bei uns mehrere Prüfungen, seitens der Staatsanwaltschaft, des Innenministeriums, des Justizministeriums und der Steuerbehörden. Und 2016, als wir gezeigt haben, dass die Popularität der Kreml-Partei "Einiges Russland" sinkt, wurden am Gesetz über Non-Profit-Organisationen Änderungen vorgenommen, mit denen Meinungsumfragen mit politischer Betätigung gleichgesetzt wurden. Wenn man bedenkt, dass nur wir eine solche Organisation mit einem solchen Status sind, dann zielte das genau auf uns ab.
Inwieweit unterscheiden sich Ihre Umfragen von denen, die mit Zustimmung des Kremls veröffentlicht werden?
Bei einigen konkreten Zahlen kann es sehr starke Unterschiede geben. Aber in manchen Fällen kann es auch Übereinstimmungen geben. Bei den Trends und allgemeinen Tendenzen gibt es natürlich Übereinstimmungen bei allen drei großen Diensten. Aber das konkrete Bild kann sich dann sehr stark unterscheiden. Laut unseren Zahlen besteht eine viel geringere Bereitschaft, an den Wahlen teilzunehmen - vor allem im Vergleich mit den Zahlen des WZIOM, dem Allrussischen Meinungsforschungszentrum. Aber das Wichtigste ist, dass wir ein völlig anderes Bild zeigen, was die Haltung gegenüber der Staatsmacht und den Grad der Zufriedenheit mit ihr angeht. Das ärgert den Kreml.
Was können Sie über die Zeit nach den Wahlen sagen? Hängt die Zukunft des Lewada-Zentrums vom Kreml ab?
Wir leben in einer undemokratischen Gesellschaft, mit einem sich verstärkenden autoritären Regime. Ich würde es sogar als rückwärtsgewandt bezeichnen, als rezidiven Totalitarismus, mit zunehmender Kontrolle über die Gesellschaft, mit Zensur und zunehmenden repressiven Maßnahmen gegen unerwünschte Organisationen oder Personen in Russland. Es herrscht völlige Willkür. Die Art und Weise, wie die Gerichte arbeiten, zeigt doch, dass sie den Willen und die Aufträge des Kremls vollständig erfüllen. Daher kann ich nicht sagen, ob unsere Arbeit auch künftig gewährleistet sein wird.
Lew Gudkow ist ein russischer Soziologe. 2003 verließ er mit Jurij Lewada aufgrund staatlicher Einflussnahme das WZIOM, das Allrussische Meinungsforschungszentrum. Anschließend arbeitete Gudkow im neuen Lewada-Zentrum. Nach dem Tod Lewadas übernahm Gudkow die Leitung des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts. Am 26. November 2017 wurde er in Köln mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet.
Das Gespräch führte Mykhailo Komadovsky