Lew Ponomarjow: "Anna Politkowskajas Einfluss war gewaltig"
12. Oktober 2006DW-RADIO/Russisch: Herr Ponomarjow, wie bewerten Sie die Äußerungen von Präsident Putin über den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja?
Lew Ponomarjow: Er reagierte erst am dritten Tag nach der Tat und eigentlich auch nur auf Druck der deutschen Öffentlichkeit, weil er weiß, dass man in Deutschland dazu nicht einfach schweigen kann. Bei solch aufsehenerregenden Ereignissen müsste sich der Präsident eigentlich bereits am ersten Tag äußern. Mehr noch: Wir haben das erwartet. Aber er hat nicht zufällig geschwiegen. Er konnte wohl keine herzlichen und aufrichtigen Worte finden. Was er letztendlich dazu gesagt hat, ist scheußlich in vielerlei Hinsicht. Ich möchte vor allem auf die Phrase aufmerksam machen, dass, wer immer den Mord begangen habe und unter welchen Motiven auch immer, er Russland schade. Das Wort "Motive" setzt voraus, dass es auch gute Absichten, gute Motive gibt. Das bedeutet eigentlich, dass der Präsident annimmt, es könnte auch "gute" Absichten für den Mord an Anna Politkowskaja gegeben haben. Da hat er sich wohl – im Sinne Sigmund Freuds – selbst entlarvt.
Stimmen Sie Putin zu, der sagte, Politkowskajas politischer Einfluss in Russland sei "unbedeutend" gewesen?
Das ist komplett gelogen, das hat keinen Bezug zur Realität. Sie war Millionen Einwohnern unseres Landes bekannt, obwohl man ihr nicht die Möglichkeit gab, in Zeitungen mit Millionen-Auflage wie der "Komsomolskaja Prawda" zu publizieren oder im landesweiten Fernsehen aufzutreten. Der gesamten politischen Klasse war sie bekannt, ich unterstreiche: der politischen Klasse! Egal, ob es sich dabei um Strukturen der Staatsmacht, Abgeordnete des russischen Parlaments der Partei "Einiges Russland" oder um Gegner der Staatsmacht handelt. Sie alle kannten Politkowskaja, sie alle lasen ihre Artikel, und deswegen war ihr Einfluss auf die politische Klasse gewaltig. Was Informationen angeht, so war sie eine Nachrichtenmacherin, auch, was die Meinungsbildung der Öffentlichkeit betrifft. Sie war ein Beispiel für einen kompromisslosen Kampf. Ihr Einfluss war gewaltig.
Was halten Sie von Putins Äußerung, der Mord an Politkowskaja schade Russland mehr als ihre Veröffentlichungen?
Wir sehen, dass der Präsident Anna Politkowskajas Tod vor allem im Hinblick auf den Schaden für sich selbst bewertet. Das ist eine sehr egozentrische Herangehensweise. Manche haben es sogar kindisch genannt, dass er in erster Linie nicht an Trauer, nicht an Mitleid gedacht hat, sondern dass es ihm selbst "sehr schadet". Viele Phrasen des Präsidenten hatten diesen Bezug. Er widerspricht sich selbst, wenn er erst sagt, dass sie unbedeutend gewesen sei, und dann sagt, dass sie der Staatsmacht geschadet habe. Und noch etwas: Putin trennt "Russland" und "Staatsmacht" nur durch ein Komma. Er zieht so eine gewisse Parallele zwischen Russland und der Staatsmacht – das ist aber falsch und ungerecht. Anna Politkowskaja hat Russland nie geschadet. Im Gegenteil: Ihre gerechten Worte über das ungerechte Vorgehen der Staatsmacht haben Russland gut getan. Wenn etwas Russland schadet, dann ist es das Vorgehen der Staatsmacht.
Das Gespräch führten Gleb Gavrik und Pavel Los
DW-RADIO/Russisch, 11.10.2006, Fokus Ost-Südost