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DiversitätNahost

LGBTQ in Nahost: Vergangene Toleranz für Homosexualität

Monir Ghaedi
15. Juli 2023

Homosexualität habe in der muslimischen Kultur keinen Platz, argumentieren Konservative im Nahen Osten. Eine Behauptung, der LGBTQ-Aktivisten aber auch mehrere Forscher entgegentreten - mit historischen Argumenten.

Zwei verliebte junge Männer auf einem Werk des persischen Künstlers Riza Abbasi, um 1630 nach Christus
Zuneigung: Zwei junge Männer in einem Werk des persischen Künstlers Riza Abbasi, um 1630 n.Chr. Bild: picture alliance / CPA Media Co. Ltd

"Wenn ich jemanden beeindrucken möchte, den ich mag, schicke ich ihm klassische Gedichte, die die männliche Schönheit feiern", sagt Fouad. Der 26-jährige Libanese ist schwul - und zugleich ein Liebhaber der arabischen Lyrik. "Diese Methode hat sich als sehr effektiv erwiesen", sagt er lachend im Gespräch mit der DW. 

Der Libanon ist eines der wenigen arabischen Länder, in denen Homosexualität nicht ausdrücklich verboten ist. Dennoch geht die Regierung in letzter Zeit hart gegen die lokale LGBTQ-Gemeinschaft vor. Darum hält sich Fouad lieber bedeckt und gibt seinen vollen Namen nicht preis.

Ermutigung sucht er in Versen des Dichters Abu Nuwas aus dem 8. Jahrhundert. Abu Nuwas war bekannt für seine homoerotischen Zeilen. Bereits vor Jahrhunderten beschäftigten sich arabische, persische und türkische Dichter mit dem gleichgeschlechtlichen Begehren. Doch später trat ihr Erbe im Nahen Osten mehr als nur in den Hintergrund: Homosexualität steht in den meisten Ländern der Region sogar unter Strafe.

Konservative Narrative

Die Behauptung, gleichgeschlechtliche Beziehungen gehörten nicht zur Kultur des Nahen Ostens, wird heutzutage von vielen Offiziellen und religiösen Führern vorgetragen. So etwa von Ahmed al-Tayyeb, dem Groß-Imam der Al-Azhar-Universität in Kairo, einem führenden geistigen Zentrum des sunnitischen Islam. Al-Tayyeb bezeichnete Homosexualität wiederholt als westlichen Kulturimport. Dabei steht in Ägypten die LGBTQ-Gemeinde ohnehin unter Druck.

Revolution der Liebe: Kunstwerk des iranischen Malers Alireza Shojajan, ausgestellt in Paris 2022Bild: CHRISTOPHE ARCHAMBAULT/AFP/Getty Images

Viele LGBTQ-Aktivisten aus der Region vertreten hingegen die gegenteilige Ansicht. Aus ihrer Sicht gibt es durchaus entsprechende Traditionen in Nahost. Für die Verbreitung der Homophobie dort sei vielmehr der Kolonialismus maßgeblich gewesen.

So etwa kritisiert die queere afroamerikanische Muslima Blair Imani die Vorstellung, die muslimischen Gesellschaften hätten seit jeher eine verklemmte Einstellung zur Sexualität. "Als Muslime und Christen miteinander in Kontakt kamen, waren Muslime sexuell freizügiger als die Christen", sagte sie in einem Vortrag zur historischen Entwicklung der Thematik in der Region.

Tradition gleichgeschlechtlichen Begehrens

Laut historischen Untersuchungen standen Könige, Befehlshaber, Richter und auch ganz normale Bürger Formen des nicht-heterosexuellen Begehrens in der Geschichte der Region zeitweise relativ offen gegenüber.

So fanden es beispielsweise muslimische Reisende, die Mitte des 19. Jahrhunderts Europa besuchten, bemerkenswert, dass Männer dort Männern nicht den Hof machten. Umgekehrt waren europäische Reisende, die vor-koloniale arabische Gemeinschaften besuchten, schockiert, als sie sahen, wie offen dort manche Männer seinerzeit ihre homoerotische Anziehung zu "Knaben" zum Ausdruck brachten.

Der Sänger und LGBTQ-Aktivist Hamed Sinno von der Gruppe Mashrou Leila bei einem Auftritt in Amman, 2012Bild: Diaa Hadid/AP/picture alliance

Aufzeichnungen zeigen zudem, dass auch transsexuelle Personen Anerkennung finden konnten. Einige mittelalterliche arabische Wörterbücher und Enzyklopädien beschreiben zudem fünf oder mehr Kategorien von Geschlechtern. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2020 beschreibt Shireen Hamza, Forscherin an der Harvard-Universität, diese als "Frau, männliche Frau, Khuntha, verweichlichter Mann und Mann". Als "Khuntha" galt ein Mensch zwischen beiden "Hauptgeschlechtern".

Hamza schreibt auch über einen Gerichtsfall, bei dem ein muslimischer Richter im 16. Jahrhundert in Damaskus einer Transfrau erlaubte, einen Mann zu heiraten, der in sie verliebt war.

Schönheit und Sünde

Die sexuelle Orientierung galt früher in den muslimisch geprägten Gesellschaften in vielen Fällen offensichtlich nicht als zentral für die Identität einer Person. Zudem habe die mittelalterliche arabische Welt sexuelle Anziehung auf widersprüchliche Weise betrachtet, schreibt der Historiker Khaled el-Rouayheb, ebenfalls von der Harvard-Universität. Gleichgeschlechtliche Anziehung sei in unterschiedlichem Maße toleriert worden, so el-Rouayheb in seinem 2007 erschienenen Buch "Before Homosexuality". Teils habe diese Toleranz aber auch gefehlt.

So etwa unterschieden islamische Gelehrte zwischen dem Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern und weniger körperintensiven Ausdruckformen der gleichgeschlechtlichen Liebe. Ersteres galt als Sünde, letztere hingen als Ausdruck gesteigerter Sensibilität sowie der Fähigkeit, menschliche Schönheit zu schätzen.

Kolonialismus und Homophobie

Später änderte sich die Einstellung gegenüber gleichgeschlechtlicher Anziehung im Nahen Osten radikal. Dabei dürfte auch der westliche Kolonialismus eine wichtige Rolle gespielt haben, meinen Forscher und LGBTQ-Aktivisten aus der Region.

So führten Frankreich und Großbritannien - beide Mächte kontrollierten einst jeweils große Teile der arabischen Welt - die ersten Strafgesetze gegen Homosexualität in der Region ein. In Algerien etwa sah die französische Kolonialmacht harte Strafen für gleichgeschlechtliche Beziehungen vor, darunter Gefängnis und Zwangsarbeit. Der Einfluss dieser Tradition hielt auch dann noch an, als die europäischen Staaten ihre Kolonien längst aufgegeben hatten.

LGBTQ-Demonstration in Beirut, 2020Bild: Hassan Ammar/AP Photo/picture alliance

Viele nationalistische Regierungen in der Region übernahmen allerdings die kolonialen Vorstellungen, in deren Sicht gleichgeschlechtliche Anziehung als Dekadenz oder Ausdruck von Geisteskrankheit galt. Islamistische Bewegungen folgten diesem Beispiel und kriminalisierten gleichgeschlechtliche Beziehungen mit religiösen Begründungen. Werke von Dichtern wie Abu Nuwas wurden teils zensiert.

Vergessenes Erbe

Die arabische Welt habe sich der historischen Aufarbeitung bislang verweigert, sagt die in den USA lebende Autorin und Forscherin Samar Habib. Nun aber gehe die arabische LGBTQ-Gemeinschaft diese Aufgabe an - auch, um sich gegen Diskriminierung zu wehren. "Auf diese Weise erschafft man einen Widerstandskörper", so Habib gegenüber DW.

Persische und arabische Literatur dienten LGBTQ-Aktivisten als Kronzeugen, mit deren Hilfe sie zeigten, dass Homophobie in der arabischen und persischen Geschichte und Kultur keineswegs universell sei, so Habib.

Männliche Erotik: Gemälde des iranischen Künstlers Alireza Shojaian Bild: CHRISTOPHE ARCHAMBAULT/AFP/Getty Images

Die LGBTQ-Gemeinschaft im Nahen Osten stehe vor einer zweischneidigen Herausforderung, sagt die Literaturwissenschaftlerin Aya Labanieh von der Columbia-Universität in New York. "Zum einen sehen sie sich interner Unterdrückung gegenüber, die ihre queere Identität als importierte, der islamischen Gesellschaft und Kultur fremde Identität brandmarkt. Zum anderen riskieren sie, zum Spielball islamfeindlicher Narrative zu werden, die gezielt ein düsteres Bild der muslimischen Gesellschaften zeichnen." Darum betonten LGBTQ-Aktivisten zunehmend die regionalen Aspekte ihrer Identität, so Labanieh im DW-Interview.

Allerdings dürfe man die Vergangenheit auch nicht positiv verklären, warnt die Literaturwissenschaftlerin. Es brauche eine differenzierte Sicht, die auch Werte wie Gleichheit und Rechte berücksichtige.

Trost der Poesie

Unterstützt von seinem Vater, begann der schwule Libanese Fouad schon in jungen Jahren, klassische arabische Gedichte zu lesen. Später diente sie ihm als Schutz gegen ein mögliches Trauma. "Ich kenne viele Schwule und Lesben, die mit Selbsthass aufwachsen. Ihnen wurde eingeredet, mit ihnen stimme etwas nicht", sagte er. "Ich selbst habe das nicht erlebt, denn als Teenager konnte ich sehen, dass Genies wie Abu Nuwas die gleichen Wünsche hatten wie ich."

Zum Schluss zitiert Fouad seine Lieblingsverse von Abu Nuwas: "Lasst jene Kostüme und jene Überzeugungen los, die im Laufe der Zeit zerstört, dem Wind und dem Regen überlassen und dem unvermeidlichen Verfall anheimfielen. Gehöre zu denen, die das Leben in Freuden und Risiken leben."

Diese Botschaft, sagt er, richte sich an alle Menschen.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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